kostenfreier Download als PDF - Institut für Wirtschaftsforschung Halle
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<strong>Institut</strong> <strong>für</strong> <strong>Wirtschaftsforschung</strong> <strong>Halle</strong><br />
Entwicklungskontinenten existiert bis heute kein Wirtschaftsmodell, das freie Marktwirtschaft<br />
mit offener, demokratischer Gesellschaft kombiniert.<br />
Der deutsche Fall könnte <strong>als</strong> Rebellion gegen die individualistische Moderne gesehen<br />
werden: Gegen die Welt der privatisierten Lebensrisiken, der Reduktion des Lebens auf<br />
elementare psycho-physische Vorgänge rebellierte die deutsche Kultur der Neuzeit.<br />
Gemüt stand hier gegen eine Raison der französischen Aufklärung; die Suche nach einem<br />
Geist der Gemeinschaft stand gegen eine Dynamik ökonomischer Expansion, die<br />
vom angelsächsischen Westen aus die erste Weltwirtschaft schuf. Zeitgenossen nach<br />
1800 haben die damalige deutsche Weltfremdheit bespöttelt: Die Deutschen, sagte Karl<br />
Marx, übergehen die Revolutionen der Nachbarvölker, übernehmen aber umso fleißiger<br />
ihre Restaurationen. Doch es waren zwei Entwicklungen, die aus der deutschen Nationwerdung<br />
einen Sonderweg gemacht haben:<br />
1. Das lange zeitliche Auseinanderklaffen von Entstehen der Kulturnation und endlich erreichter<br />
Staatsnation. Hundert Jahre liegen dazwischen. Vom Sturm und Drang,<br />
Schillers Versuch über „Deutsche Größe“ bis zu Bismarcks Werk aus Blut und Eisen.<br />
Vor Ideen eines befreiten, selbstständigen Einzelnen haben immer Einheitsbeschwörungen<br />
die Oberhand gewonnen. Doch sie fanden in aussichtsloser Lage statt, nämlich<br />
in landes<strong>für</strong>stlicher Kleinstaaterei. Deutschland bestand aus so vielen Staaten wie ein<br />
Mensch Zähne im Munde hat, nämlich 34, alle mit eigenen Maßen, Gewichten, Währungen<br />
und Zolltarifen. In guten Wirtschaftsgeschichten wird nacherzählt, was es gebraucht<br />
und gekostet hat, einen Stoffballen vom Rhein zur Donau zu bringen.<br />
2. Ein zweites Element war die politische Unruhe, welche die Kulturnation nach den Befreiungskriegen<br />
ergriffen hatte, ohne etwas zu erreichen. Sie war abgetaucht in ein<br />
Wechselbad zwischen Rebellion des Vormärz und dem Rückzug ins Innere der Kulturnation,<br />
weil der Weg in die Außenwelt versperrt und von Festungshaft bedroht war. Es<br />
war ein Wechselbad von – respektlos gesagt – Kulturproduktion, von hoher Literatur,<br />
Philosophie und Musik, und einer politischen Entmündigung durch das Metternich-<br />
System, die Karlsbader Beschlüsse und eine Geheimpolizei gegen Studenten, Turner<br />
und Gesangvereine.<br />
Nur langsam wuchsen Industrie und Finanzwirtschaft nach 1848 heran. In der „Gründerzeit“<br />
kam ein Großbürgertum auf, das auf der Suche nach einer verlässlichen Ordnung<br />
die Reichsgründung herbeisehnte. Denn erst mit ihr entstanden Rechtsordnung, Eigentumsordnung,<br />
Währung, Finanzwesen und Verkehrswege. Das Gefühl von Rückständigkeit<br />
und Ohnmacht gegenüber sozialen Problemen war der Anlass, sich nach einem<br />
sozialökonomischen Denken umzusehen. Das gesamte wirtschaftswissenschaftliche<br />
Schrifttum der Zeit lag vor: Adam Smith wurde bald ins Deutsche übersetzt. Es mangelte<br />
nicht an Material; doch es mangelte an einer Realität, die diesem Schrifttum entsprochen<br />
hätte. Und so haben auch hier die Fiktionen die Realität ersetzt. Fichtes „Der<br />
geschlossene Handelsstaat“ (1800), ein grandioser philosophischer Versuch, bestätigte<br />
schon den Vorrang des kulturellen Gemeinschaftsgedankens vor der losen Gesellschaft<br />
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