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SFB 600 - Fremdheit und Armut - Universität Trier

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diagnostizierten Vernunftpotentials der Moderne zu rekonstruieren. 35<br />

Mit dieser Gr<strong>und</strong>intention einer Rettung von Aufklärung <strong>und</strong> Moderne ist im<br />

Denken von Habermas ein zweites, spezifischer politisches Motiv eng verb<strong>und</strong>en.<br />

Habermas will - gegen Max Weber <strong>und</strong> Carl Schmitt – einen nichtdezisionistischen<br />

Politikbegriff entwickeln. Trotz des unaufhebbaren Wertepluralismus<br />

in modernen Gesellschaften hält er deshalb an der Wahrheitsfähigkeit <strong>und</strong><br />

dem Vernunftanspruch verbindlicher praktischer Normen fest. Ihre Geltung soll<br />

nicht auf willkürliche Entscheidung <strong>und</strong> Machtverhältnisse zurückgehen, sondern,<br />

wie vermittelt auch immer, als Ergebnis einer kooperativen Wahrheitssuche<br />

verstanden werden können. 36 Etwas polemisch könnte man sagen: die diskurstheoretisch<br />

begründete deliberative Demokratietheorie kommt zur Selbsterkenntnis<br />

der Vernunft im demokratischen Rechtsstaat.<br />

Das politische Alltagsgeschäft weist nun allerdings auf den ersten Blick wenig<br />

Ähnlichkeit mit einer kooperativen Wahrheitssuche auf. Praktisch-politische<br />

Auseinandersetzungen scheinen nahezu allen Bedingungen zu widersprechen, die<br />

einen Diskurs erst konstituieren. Sie sind nicht handlungsentlastet, sondern stehen<br />

unter Zeit- <strong>und</strong> Entscheidungsdruck. Die Teilnahme ist, solange es Staaten<br />

gibt, begrenzt. Die politische Meinungs- <strong>und</strong> Willensbildung ist nicht auf den<br />

Konsens einer idealen Gemeinschaft bezogen, sondern geht aus von den partikularen<br />

Interessen <strong>und</strong> Perspektiven spezifischer Teilnehmer, die sich in aller Regel<br />

schwer tun, zwischen verschiedenen Stufen der Verallgemeinerungsfähigkeit von<br />

Geltungsansprüchen zu unterscheiden <strong>und</strong> dazu noch notorisch die Grenzen zwischen<br />

strategisch kalkulierter Akzeptanz <strong>und</strong> rationaler Zustimmung verwischen.<br />

37 Als politische Theorie scheint die Diskurstheorie damit heillos realitätsfern<br />

zu sein. Die Demokratie ist zwar, wie Höffe mit Durkheim feststellt, die<br />

„Herrschaftsform der Reflexion“, weil sie beständige Kommunikation impliziert,<br />

sie ist aber nicht eine Staatsform des handlungsentlasteten, wahrheitsfähigen<br />

Diskurses. 38<br />

Habermas begegnet dieser Kritik zunächst durch eine Präzisierung <strong>und</strong> Abschwächung<br />

des Wahrheitsanspruches praktischer Diskurse. Gegen die aristoteli-<br />

35<br />

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37<br />

38<br />

In einem Gespräch zur „Theorie des kommunikativen Handelns“ nennt Habermas 1985 als<br />

nächsten Schritt die Aufgabe, den Begriff kommunikativer Rationalität anwendbar zu machen<br />

<strong>und</strong> ihn auf institutionalisierte Interaktionszusammenhänge zu beziehen (vgl. Habermas<br />

1985: 173). Seine Theorie des demokratischen Rechtsstaates bildet die konsequente<br />

Umsetzung dieses Vorhabens.<br />

Dazu etwa Habermas 1973: 139 <strong>und</strong> Habermas 1996a: 336.<br />

Für eine Zusammenfassung der kritischen Einwände gegen die Übertragung des Diskursmodells<br />

auf den politischen Alltag vgl. etwa Scheidt 1987: 398f <strong>und</strong> Willems 2003: 31f.<br />

Vgl. Höffe 1993: 44.

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