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SFB 600 - Fremdheit und Armut - Universität Trier

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30<br />

7. Die unaufhebbare Vielfalt der Gründe<br />

Die obige, im Streit mit McCarthy eingenommene Position hat zweifellos etwas<br />

vom sprichwörtlichen „dass nicht sein kann, was nicht sein darf“. 57 Zudem ist sie<br />

hochgradig kontraintuitiv. Die Legitimität demokratischer Entscheidungen an der<br />

Annahme festzumachen, es sei genau eine richtige Lösung der diskutierten Probleme<br />

möglich, mag aus der Perspektive des Theoretikers, der das Spannungsverhältnis<br />

zwischen individueller Autonomie <strong>und</strong> kollektiver Selbstregierung durch<br />

seinen Begriff kommunikativer Rationalität auflösen will, zwingend erscheinen.<br />

Für die Teilnehmer am demokratischen Prozess gilt jedoch das Gegenteil: Sie<br />

müssen rechtmäßig zustande gekommene Entscheidungen, sei es in inhaltlichen<br />

oder in prozeduralen Fragen, als legitim akzeptieren, auch wenn sie sie für falsch<br />

halten. Habermas Prämisse der „einen richtigen Antwort“ auf die im demokratischen<br />

Prozess zu entscheidenden Fragen erinnert an Rousseaus Aussage, wonach<br />

es nur einen Gemeinwillen geben kann <strong>und</strong> derjenige, der in Mehrheitsentscheidungen<br />

überstimmt werde, sich eben geirrt habe, da es nicht der Gemeinwille<br />

war, was er dafür gehalten hat. 58 Wir werden weiter unten noch sehen, dass diese<br />

Parallelität keineswegs zufällig ist, sondern ihre Ursache in der, bei allen Unterschieden,<br />

von Rousseau wie von Habermas vorgenommenen Rückführung der<br />

57<br />

58<br />

Ausführlich setzt sich Habermas mit der Gültigkeit des Bivalenzprinzips für Fragen der<br />

normativen Richtigkeit in seinem Aufsatz „Richtigkeit vs. Wahrheit“ auseinander. Dabei<br />

geht es ihm genauer darum, den rechtfertigungstranszendenten Weltbezug, mit dem wir<br />

Fragen deskriptiver Wahrheit jenseits des Diskurses entscheiden können, durch die „Orientierung<br />

an einer Erweiterung der Grenzen der sozialen Gemeinschaft <strong>und</strong> ihres Wertekonsenses“<br />

zu ersetzen (Habermas 1998a: 195). Das Bivalenzprinzip, die Orientierung auf eine<br />

einzig richtige Antwort, ist also demnach auch in moralischen Fragen möglich, sofern wir<br />

unterstellen, „dass sich die gültige Moral auf eine einzige, alle Ansprüche <strong>und</strong> Personen<br />

gleichmäßig einbeziehende soziale Welt erstreckt“ (ebd.: 197). Diese soziale Welt, an der<br />

sich die Richtigkeit von Normen zu bewähren hat, sei allerdings nicht gegeben, sondern uns<br />

als Projekt einer „vollständig inklusiven Welt“ „aufgegeben“ (ebd.). Demnach ist der kognitive<br />

Charakter der Moral an das geschichtsphilosophische Projekt der Herstellung einer<br />

„vollständig inklusiven Welt“ geb<strong>und</strong>en, das bekanntlich seinerseits alles andere als konsensfähig<br />

ist. Zwei Aspekte dieser Verteidigung des Bivalenzprinzips scheinen mir bemerkenswert.<br />

Zum einen verlangt Habermas damit von partikularen Gemeinschaften, die Perspektive<br />

ihrer Selbstauflösung zum letzten Bezugspunkt der Entscheidungen über ihre Normen<br />

zu machen. Zum zweiten kann der Standpunkt einer vollständig inklusiven Welt, von<br />

dem aus kontroverse Argumente zu prüfen sind, real von keinem Bewusstsein <strong>und</strong> keiner<br />

Prozedur eingenommen werden. Es ist ziemlich genau der Standpunkt des „lieben Gottes“.<br />

Vgl. dazu Rousseau 1997: 172. Eine auf die “Federalist Papers” zurückgehende Gegenposition<br />

im Verständnis des Politischen formuliert Ruth Grant: „The premise of every truly political<br />

situation, particularly in democratic politics, is that reasonable people can disagree“<br />

(Grant 2002: 582). Dies ist auch die Position von Hannah Arendt. Im Gegensatz zum Bivalenzprinzip<br />

des wahrheitsfähigen Diskurses bei Habermas formuliert sie „Public debate can<br />

only deal with things which we cannot figure out with certainty“ (Arendt 1979: 317).

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