UMWELT UND GESUNDHEIT – WOHLBEFINDEN STATT KRANKHEIT nicht so organisieren darf, dass am Ende nur der länger lebt, der Geld hat. Mit Sorge sehe ich seit einigen Jahren, wie sich Tendenzen einer Zwei-Klassen-Medizin verstärken. Wir wollen verhindern, dass für schwächer soziale Schichten nur eine Gr<strong>und</strong>versorgung bleibt, während sich finanziell besser gestellte Schichten eine bessere Betreuung leisten können. Dies ist nur zu erreichen, wenn wir die Gr<strong>und</strong>fragen des Ges<strong>und</strong>heitssystems aufgreifen. Vor allem die Frage, ob unser Verständnis von Ges<strong>und</strong>heit noch zeitgemäß ist? Ich will auf zwei aktuelle Punkte eingehen: Es ist ein großer Skandal was an Betrug <strong>und</strong> Bereicherung im Ges<strong>und</strong>heitswesen vorkommt. Dazu gehören beispielsweise manipulierte Laborrechnungen. Und wenn Ärzten, die diese Skandale aufdecken, oder die versuchen, neue Wege in der Ges<strong>und</strong>heitspolitik zu gehen, mit Entzug der Zulassung gedroht wird, dann zeigt das, dass wir es im Ges<strong>und</strong>heitswesen auch mit einer konservativen Seilschaft zu tun haben, die mit allen Mitteln ihre persönlichen Interessen verfolgen. Es freut mich aber auch, dass immer mehr Ärzte auf Reformen drängen. Wir haben viele Verbündete, gerade bei den Ärzten, wenn es darum geht, neue Wege in der Ges<strong>und</strong>heitspolitik zu gehen. Mit Interesse habe ich gelesen, dass selbst Ärztezeitungen von einer »Labormafia« schreiben. Ein Gericht spricht in einem Urteil sogar von »mafiösen Tendenzen« in der Ärzteschaft <strong>und</strong> ihren Verbänden. Das sind nicht die, mit denen wir Bündnisse für die Reform des Ges<strong>und</strong>heitswesens schmieden können. Ein zweites Beispiel ist »Dioxin in Lebensmitteln«. Darüber wird zur Zeit im Zusammenhang mit den Vorkommnissen in Belgien debattiert. Das Lebensmittel vor allem billig sein sollen, ist mit einer guten Ges<strong>und</strong>heitsversorgung nicht vereinbar. Es geht nicht, drei Hähnchen für DM 10,– anzubieten, wenn sie ein gutes <strong>und</strong> qualitatives Nahrungsmittel sein sollen. Die Folgen zeigen sich in der Verschlechterung der Ges<strong>und</strong>heit. Auch darf nicht an Nahrungsmitteln durch fragwürdige Zuchtmittel manipuliert werden, um sie vor allem billig zu machen. Der Zusammenhang von Ernährung <strong>und</strong> Umwelt ist ein entscheidender Faktor für die Ges<strong>und</strong>heit der Menschen. Auch wäre es verlogen, einerseits von Ges<strong>und</strong>heitsschutz zu reden, andererseits aber Umweltdumping zuzulassen. Der Schutz der Umwelt, der Schutz der Tiere <strong>und</strong> der Schutz der Menschen gehören zusammen. Im Zentrum unserer Tagung steht die Erkenntnis, dass wir einen tiefgreifenden Wandel in den Krankheitsbildern feststellen. Immer häufiger treten chronische Krankheiten auf. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen kommt zu dem Ergebnis, dass bis zu 40 Millionen Menschen an derartigen Komplexkrankheiten leiden. Während die Ges<strong>und</strong>heitspolitik früher vornehmlich von Massenkrankheiten geprägt wurde, erleben wir heute immer häufiger unspezifische Ursachen als Krankheitsauslöser oder Krankheitsverstärker. Viele Menschen haben Vorschädigungen. Sie sind quasi Türöffner für schwerwiegende, dann auch chronische Krankheiten. Die moderne Ges<strong>und</strong>heitspolitik muss deshalb die Krankheit vor der Krankheit bekämpfen. Ein Ges<strong>und</strong>heitssystem, das erst eingreift, wenn Krankheiten ausgebrochen sind, greift zu kurz. Wir brauchen ein Ges<strong>und</strong>heitssystem, das zuerst auf die Förderung <strong>und</strong> den Erhalt der Ges<strong>und</strong>heit ausgerichtet ist. Das ist der Paradigmawechsel, der heute ansteht. Das ist das, was wir unter einer zukunftsfähigen Ges<strong>und</strong>heitspolitik verstehen. Deshalb wollen wir, dass sich das Verständnis von Ges<strong>und</strong>heitspolitik verändert. Dies ist vergleichbar mit dem Lernprozeß der Ökologie. Auch dort wissen wir, dass nachsorgender Umweltschutz ineffizient, teuer <strong>und</strong> in der Regel wenig wirksam ist. Wir müssen auch zum Schutz der natürlichen Lebensgr<strong>und</strong>lagen sehr viel früher ansetzen, also Schäden möglichst vermeiden. Ein Ges<strong>und</strong>heitssystem mit Stufendiagnostik <strong>und</strong> R<strong>und</strong>-um-Überweisungen ist nicht zeitgemäß. Ges<strong>und</strong>heitspolitik muss die sozialen <strong>und</strong> ökologischen Bezüge sehen, in denen der Mensch lebt. Die Debatte über die Reform des Ges<strong>und</strong>heitswesens hat begonnen. Der erste Schritt ist die Beseitigung der größten Schwachstellen, der finanziellen <strong>und</strong> organisatorischen Gr<strong>und</strong>lagen. Dies ist Auf- 9
10 UMWELT UND GESUNDHEIT – WOHLBEFINDEN STATT KRANKHEIT räumungsarbeit. Der zweite Schritt muss sein, das Ges<strong>und</strong>heitssystem qualitativ zu erneuern <strong>und</strong> zu verbessern. Das Ziel unserer Tagung ist es herauszufinden, wie wir denn einen verfestigten, von starker wirtschaftlicher Macht geprägten Sektor umbauen können. Ich wünsche der Tagung einen guten Verlauf.