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doppel:punkt 2013:02 Fachzeitschrift für Bibliotheken in der ...

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8Das Volksmärchen lebt von Stereotypen, vor allem, wasdie Figuren betrifft: Sie seien e<strong>in</strong>dimensional, flach,haben ke<strong>in</strong>en Charakter. Hänsel, Schneewittchen undCo haben sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Märchenforschung diesbezüglichallerhand anhören müssen. Schön also, dass sichElisabeth Ste<strong>in</strong>kellner und Michael Roher <strong>der</strong> Missk<strong>in</strong><strong>der</strong>und jugend : literatur<strong>doppel</strong>:<strong>punkt</strong> <strong>2013</strong>:2nicht, wo sie herkommt o<strong>der</strong> h<strong>in</strong>will. Tabula rasa mit<strong>der</strong> eigenen Existenz sozusagen. Geblieben s<strong>in</strong>d ihr nurdie konkreten Spuren, die sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Welt h<strong>in</strong>terlassenhat: Mit dem Inhalt ihrer Handtasche kann sie ihrenNamen und Wohnort rekonstruieren, mit ihrem Handyihren Arbeitsplatz. Mit detektivischem Spürs<strong>in</strong>n begibtsie sich so auf die Suche nach sich selbst und erweistsich dabei als unheimlich charmante Identifikations-figur - wortwörtlich, gilt es doch sowohl für Eloïse alsauch die Lesenden diese Eloïse kennen zu lernen.Dabei spaltet sich die Figur spannend auf: In jenejunge Frau, <strong>der</strong>en Charakter man aufgrund ihrer Wohnung,ihrer persönlichen Gegenstände und ihres Umfeldserahnen kann und die Eloïse ohne Gedächtnis,die sich nur allzu oft über sich selbst wun<strong>der</strong>t, wennsie beispielsweise ihr eigenes Duschgel erschnuppert:Wie ist die denn drauf mit ihrem ganzen Früchte-Kram?Sichtbar wird diese Diskrepanz also ganz konkret imSprachgebrauch, wenn Eloïse von sich selbst <strong>in</strong> <strong>der</strong>dritten Person spricht, aber auch im Subtext <strong>der</strong> Erzählung,wenn zunehmend sichtbar wird, dass ihr die alteIdentität e<strong>in</strong>fach nicht mehr passt. Die Panels folgeneng Eloïses Wahrnehmung und erzählen gleichsamkomisch wie tiefgründig, mit welcher Akribie Eloïseihre sche<strong>in</strong>bare Persönlichkeit erforscht: Sie probiert ihreHobbys aus (Stricken? Zeichnen? Gitarre spielen?),ihre Freunde und Gewohnheiten und füllt Leerstellen -dort, wo es ke<strong>in</strong>e Anhalts<strong>punkt</strong>e gibt - mit unterschiedlichenGedankenspielen: Wenn sie sich <strong>in</strong> graphischbeson<strong>der</strong>s hervorgehobenen Panels ausmalt, Geheimagent<strong>in</strong>gewesen o<strong>der</strong> von Aliens entführt worden zuse<strong>in</strong> o<strong>der</strong> die Vorstellung ihres Arbeitsplatzes (e<strong>in</strong>eheimelige Buchhandlung) von <strong>der</strong> Realität (e<strong>in</strong> anonymisierterGroßkonzern) doch stark abweicht, zeugtdas von ihrer reichen Fantasie und entsprechen<strong>der</strong>Mediensozialisation. Mit ihrer leicht überzeichnetenMimik und Gestik wächst e<strong>in</strong>em die junge Frau sehrans Herz - e<strong>in</strong> bisschen verpeilt, aber sehr clever, e<strong>in</strong>bisschen Drama, aber sehr reflektiert.Sowohl <strong>in</strong> den Zeichnungen als auch im Text istEloïse psychologisch sehr genau skizziert. Doch je näherman als Leser<strong>in</strong> <strong>der</strong> neuen Eloïse kommt, destomehr entfremdet sich Eloïse selbst. Denn die Frau,die sie <strong>in</strong> ihren Recherchen erkennt, sche<strong>in</strong>t nichtglücklich gewesen zu se<strong>in</strong>. So sichtet sie Aktenbergeüber sich selbst, katalogisiert ihr Wohnungs<strong>in</strong>ventarund kommt sich doch ke<strong>in</strong> Stück näher. Langsamschiebt sich e<strong>in</strong>e stimmige melancholische Note überden Text, und Eloïse versteigt sich im manischenWahn, sich selbst gerecht zu werden, sich ihrem altenLeben anzupassen, es schlicht wie<strong>der</strong> zu er<strong>in</strong>nern.Doch Ärzte, Selbsthilfegruppen, hypnotische Regressiono<strong>der</strong> <strong>der</strong> Besuch ihres K<strong>in</strong>dheitsortes können nichthelfen, und so ist sie letztlich wie<strong>der</strong> zurückgeworfenauf sich selbst.Dass <strong>der</strong> spannenden Suche nach Identität ke<strong>in</strong>ef<strong>in</strong>ale Enthüllung des Grundes ihrer Amnesie folgt- o<strong>der</strong> gar e<strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nern - tut dieser großartigen GraphicNovel ke<strong>in</strong>en Abbruch. Ganz im Gegenteil: DerSchlussakkord stimmt den Text noch e<strong>in</strong>mal raff<strong>in</strong>iertfium - und deutet Eloïses Amnesie nicht als Verlust,son<strong>der</strong>n als Chance. Sie löst sich von <strong>der</strong> Vergangenheit,von allen D<strong>in</strong>gen und macht erneut Tabula rasa- diesmal ganz konkret: Kle<strong>in</strong>scheiß, Modeschmuck …nichts mit e<strong>in</strong>er Geschichte … - und wirft all das weg,an das sie sich geklammert hat. Wie auf e<strong>in</strong>em leerenBlatt darf sie ihre Persönlichkeit neu schreiben.Diesmal richtig. Diesmal glücklich.|christ<strong>in</strong>a ulm|Wie e<strong>in</strong> leeres Blatt/ Szenario: Boulet. Zeichn. und Farbe: Pénélope Bagieu.[Aus dem Franz. von Ulrich Pröfrock. Red.: Sab<strong>in</strong>e Witkowski].- Hamburg : Carlsen, <strong>2013</strong>. - 201 S. : überw. Ill.E<strong>in</strong>heitssacht.: La page blanche ISBN 978-3-551-75109-6fest geb. : EUR 18,40kröte des monatsjuni <strong>2013</strong>elisabeth ste<strong>in</strong>kellnerwer fürchtet sichvorm lila lachs

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