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doppel:punkt 2013:02 Fachzeitschrift für Bibliotheken in der ...

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schwer<strong>punkt</strong> : auf reisen se<strong>in</strong>s3Me<strong>in</strong>e Lebenserfahrung zeigt mir auch, dass Mehrsprachigkeitvor Selbstverherrlichung schützt, vor allemdann, wenn man die Welt aus dieser Sprache heraussehen kann - sie führt zu e<strong>in</strong>em multiperspektivischenDenken, da sie die E<strong>in</strong>bahnstraße <strong>in</strong> Frage stellt. Soplädiere ich dafür, dass unsere K<strong>in</strong><strong>der</strong> mehrsprachig erzogenwerden. Wichtig wäre es für uns alle, die Nachbar-und M<strong>in</strong><strong>der</strong>heitensprachen zu erlernen. Es istschlichtweg skandalös, aufgrund e<strong>in</strong>er kapitalistischenFunktionalisierung nur Weltsprachen zu lehren undSprachen als bloßen Wettbewerbsvorteil wahrzunehmen,anstatt sie als kommunikatives Medium zu würdigen.Die absurden Ressentiments und Rassismen <strong>in</strong>Osteuropa <strong>in</strong> Bezug auf die Roma bspw. zeigen sichauch daran, dass niemand aus <strong>der</strong> MehrheitsbevölkerungRomani beherrscht. Letzten Sommer war ich <strong>in</strong>Mazedonien: Die albanische M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit, die mehr alse<strong>in</strong> Viertel <strong>der</strong> Gesamtbevölkerung ausmacht, sprichtauch Mazedonisch - kaum e<strong>in</strong> Mazedonier spricht jedochAlbanisch. Mehrsprachigkeit ist aufklärerischeBürgerpflicht! Die Wertschätzung dem Nachbarn undden M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten gegenüber wäre dann e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e.|dopu| Diese Pflicht erstreckt sich Ihrer Ansicht nachauch auf die M<strong>in</strong><strong>der</strong>heiten?|I.T.| Ja, denn <strong>der</strong> sprachlose Mensch ist e<strong>in</strong> entwürdigterMensch: In den letzten 2 Jahren hatte ich alsJurymitglied des För<strong>der</strong>programmes <strong>der</strong> Robert-Bosch-Stiftung, das Stipendien an begabte Immigrantenk<strong>in</strong><strong>der</strong>vergibt, fungiert. Bei <strong>der</strong> Preisverleihung gratulierteich e<strong>in</strong>er Stipendiat<strong>in</strong>, die me<strong>in</strong>e Würdigungdem Vater übersetzen musste. Es war schmerzhaft fürmich zu sehen, dass dieser aufgrund se<strong>in</strong>er fehlendenSprachkenntnisse an e<strong>in</strong>em großen Moment im Lebense<strong>in</strong>er Tochter nicht adäquat teilhaben konnte.F<strong>in</strong>anzielle Restriktionen dürfen daher <strong>in</strong> den Belangen<strong>der</strong> Sprachför<strong>der</strong>ung ke<strong>in</strong>e Rolle spielen. Der Spracherwerbist e<strong>in</strong>e Herausfor<strong>der</strong>ung - beide Seiten habenhier e<strong>in</strong>e Br<strong>in</strong>gschuld.|dopu| Als Literat haben Sie e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Beziehungzur Sprache, mit <strong>der</strong> Sie nicht nur im literarischenSchaffensprozess virtuos umgehen, son<strong>der</strong>n auch bei<strong>der</strong> Vermittlung Ihrer Werke vor Publikum. Ihre Autorenlesungengleichen Rezitationen.|I.T.| Ich habe seit jeher e<strong>in</strong> großes Interesse am performativenElement gehabt, auch Geschichtenerzählerhaben mich immer fasz<strong>in</strong>iert. Me<strong>in</strong>e bevorzugteTätigkeit würde e<strong>in</strong>er Mischung aus Prediger und Geschichtenerzählerentsprechen. So begeistern mich diePredigten von Mart<strong>in</strong> Luther K<strong>in</strong>g ob ihrer enormenpoetischen Qualität und ihrer Intensität, ihrer Raumschaffenden Kraft, die se<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>de förmlich <strong>in</strong> diesemRaum e<strong>in</strong>schloss. Ähnliches erlebe ich auch beime<strong>in</strong>en Lesungen, <strong>in</strong>dem e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit höchster Intensitätund Spannung entsteht, wir gleichsam auf e<strong>in</strong>egeme<strong>in</strong>same Reise gehen. Das ist e<strong>in</strong> ekstatisches, jageradezu magisches Gefühl.|dopu| Vielen Ihrer Veröffentlichungen ist e<strong>in</strong> gesellschaftskritischerWesenszug <strong>in</strong>härent. Auch Ihr gesellschaftspolitischesEngagement lässt diese Tendenz erkennen.Wo stehen wir heute?|I.T.| Ich würde es eher als Ideologiekritik o<strong>der</strong> Ideologieskepsisbezeichnen. Durch me<strong>in</strong>en Vater und me<strong>in</strong>enOnkel, <strong>der</strong> als Dissident <strong>in</strong> Bulgarien 11 Jahre imGefängnis und im Gulag verbracht hatte, habe ichfrüh erkannt, dass <strong>der</strong> Kommunismus im Ostblock e<strong>in</strong>edurch nichts zu rechtfertigende Unterdrückung,Ausbeutung und Entwürdigung des Individuums mitsich brachte. Das erklärt me<strong>in</strong>e Zurückhaltung gegenüberjeglicher Form von Ideologie. Aktuell s<strong>in</strong>d laut e<strong>in</strong>erdeutschen Umfrage über 40 Prozent <strong>der</strong> Bevölkerung<strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung, dass <strong>der</strong> Kapitalismus die Probleme<strong>der</strong> Menschheit nicht lösen kann. Ähnliches höre ichbei Lesungen, Diskussionen, Gesprächen. An<strong>der</strong>erseitsreagieren viele auf die aktuellen Probleme noch mitApathie; selten hat es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Menschheite<strong>in</strong>en <strong>der</strong>artigen Moment <strong>der</strong> Lähmung gegeben.Ich vermute jedoch, dass solche Phänomene immervor Epochen großer Umwälzungen auftreten.|dopu| Sehen Sie Alternativen zum Status quo?|I.T.| Alternativformen gibt es bereits - Institutionenund Firmen s<strong>in</strong>d unhierarchisch organisiert, diemo<strong>der</strong>nen Technologien drängen genau <strong>in</strong> diese Richtung:Wikipedia, Freeware-Entwicklungen u. Ä. m. liefernohne hierarchische H<strong>in</strong>tergrundstrukturen oft unglaublichgute Qualität. Deshalb versuchen die herrschendenInteressen, diese Ansätze zu unterdrücken,um dann zu argumentieren, dass es ja ke<strong>in</strong>e Alternativengibt. Die Zahl jener, die erkennen, dass es so nichtweitergehen kann und wird, wächst aber rasant.Mit Ilija Trojanow sprachen |wolfgang moser : hannes ortner|<strong>doppel</strong>:<strong>punkt</strong> <strong>2013</strong>:2

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