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doppel:punkt 2013:02 Fachzeitschrift für Bibliotheken in der ...

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schwer<strong>punkt</strong> : auf reisen se<strong>in</strong>s5e<strong>in</strong>e Eule ihnen die E<strong>in</strong>ladung für Hogwarts br<strong>in</strong>genwürde. In me<strong>in</strong>er Generation dagegen kenne ich ke<strong>in</strong>ensolchen Fall mehr.Natürlich, die Bücher um den jungen Zauberer mit<strong>der</strong> blitzförmigen Narbe begeistern auch heute nochviele. Aber wie sollen K<strong>in</strong><strong>der</strong> auch nur e<strong>in</strong>e bestimmteZeit lang wirklich daran glauben und damit ihrer FantasieNahrung geben, wenn sie durch das Internetschon so früh mit e<strong>in</strong>er Realität konfrontiert werden,die ohne langwierige Lesestunden auskommt undtrotzdem spannen<strong>der</strong> ist als so manches Buch?K<strong>in</strong><strong>der</strong> s<strong>in</strong>d klug. Wenn man ihnen e<strong>in</strong> Laptopvorsetzt, werden sie sich schnell darauf e<strong>in</strong>stellen undlernen, dass <strong>in</strong> den Tiefen dieser Technologie das Unmöglichegreifbar wird. Und dass es dazu nicht mehrals e<strong>in</strong> paar Klicks braucht.Man mag argumentieren, dass sich <strong>der</strong> Glaubenan fantastische Welten nur von Buchstaben auf denBildschirm verschoben hat: Schließlich kennt je<strong>der</strong> dieGeschichten von Achtzehnjährigen, die sich <strong>in</strong> ihremZimmer verschanzen, weil sie ke<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>ute von ihremLive-Onl<strong>in</strong>e-Game verpassen wollen. Aber hier stelltsich die Frage, weshalb solche Spiele so populär s<strong>in</strong>d?Ich b<strong>in</strong> selbst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Klasse, wo Games wie Clash ofClans wie wild um sich greifen. Und ich denke, es liegtdaran, dass je<strong>der</strong> sich hier ganz sicher se<strong>in</strong> kann, dassse<strong>in</strong>e Beschäftigung auf e<strong>in</strong>er Ebene vollkommen realist. Man sieht die bewegte Grafik und weiß, dass sieauf Technik beruht, steigt <strong>in</strong> geordneten Bahnen Levelum Level auf und schließt sich mit Leuten wie duund ich virtuell zusammen.Bei Büchern ist das an<strong>der</strong>s. Wir sitzen alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> unseremKämmerchen beim Lesen und können uns mitniemandem austauschen, es bleibt ungeklärt, wie e<strong>in</strong>/e<strong>in</strong>e SchriftstellerIn sechsundzwanzig Buchstaben soane<strong>in</strong>an<strong>der</strong>reihen kann, dass sie e<strong>in</strong>e Geschichte ergeben,die Grenzen zwischen Metaphern und Möglichkeitenverschwimmen, erfundene Leute reden <strong>in</strong> erfundenenDialogen ane<strong>in</strong>an<strong>der</strong> vorbei, ganze Absätzeverstricken sich <strong>in</strong> undurchsichtigen Bil<strong>der</strong>n, manversteht nicht, was <strong>der</strong> Schreiberl<strong>in</strong>g mit diesem o<strong>der</strong>jenem Vergleich sagen wollte, und ist gezwungen, dasmeiste selbst zu deuten.Die entscheidende Frage ist also, weshalb mansich noch auf die Vorstellung e<strong>in</strong>er neuen Welt, e<strong>in</strong>erverstörenden Zukunft, e<strong>in</strong>er utopischen Technologiee<strong>in</strong>lassen soll, wenn man doch ebendiese Technologiemit e<strong>in</strong>em Smartphone schon <strong>in</strong> <strong>der</strong> Hand hält. Bücherreisens<strong>in</strong>d nicht mehr die e<strong>in</strong>zige Form, wie manse<strong>in</strong>em grauen Alltag entfliehen kann. Du wünschstdir, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Welt e<strong>in</strong>zutauchen? Rollenspielegibt es im Internet zu Genüge. Du möchtest dir vorstellen,wie e<strong>in</strong> Sonnenaufgang über den Anden aussieht?Google Bil<strong>der</strong> halten die Antwort bereit. Du willstwissen, was für E<strong>in</strong>flüsse neue Technologien auf unsereWelt haben können? Schau dich e<strong>in</strong>fach um!Es sieht also so aus, als ob das Internet und Handysalle Bedürfnisse abdecken könnten, welche frühere<strong>in</strong> Buch übernommen hat: Sie <strong>in</strong>formieren, unterhaltenund machen zum<strong>in</strong>dest kurzzeitig glücklich. AlsAntwort auf die Frage, weshalb die Reisen, die wir<strong>in</strong> Büchern unternehmen, dennoch so unentbehrlichs<strong>in</strong>d, möchte ich Franz Kafka zitieren:Me<strong>in</strong> Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir ke<strong>in</strong>eBücher hätten […] Wir brauchen aber die Bücher, dieauf uns wirken wie e<strong>in</strong> Unglück, das uns sehr schmerzt,wie <strong>der</strong> Tod e<strong>in</strong>es, den wir lieber hatten als uns, wie wennwir <strong>in</strong> Wäl<strong>der</strong> vorstoßen würden, von allen Menschenweg, wie e<strong>in</strong> Selbstmord, e<strong>in</strong> Buch muß die Axt se<strong>in</strong> fürdas gefrorene Meer <strong>in</strong> uns.Genau bei diesem gewaltigen, verwirrenden Gefühl,welches Kafka beschreibt, s<strong>in</strong>d Romane <strong>der</strong> Technikweit voraus. Denn das beste Transportmittel fürReisen im Kopf ist und bleibt das Buch.|anna milena sutter|<strong>doppel</strong>:<strong>punkt</strong> <strong>2013</strong>:2Bücher s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> beste Vorrat, den ichauf unserer Lebensreise e zu f<strong>in</strong>den weiß.Michel de Montaigne

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