MENSCHENRECHTEIm Einklang mit dem Grundsatz der Nicht-Zurückweisung, dem Prinzip des»non-refoulement« im Sinne der Genfer Konvention, Flüchtlinge nicht inGefahr zu bringen, erfüllen nordkoreanische Migranten in China allerdingsdie Bedingung als »Flüchtlinge sur place« – ein Status, den alle jene erhalten,die nach ihrer Abschiebung mit sofortiger Verfolgung rechnen müssen, undmit dem die Zuschreibung aller Flüchtlingsrechte laut Konvention an Ortund Stelle verbunden ist. Würde es dieser Argumentation folgen, müssteChina eingestehen, die Menschenrechte zu verletzen.Unmittelbar nach der Rückführung nach Nordkorea werden die abgeschobenenNordkoreaner, wie bereits erwähnt, einem Verhör unterzogen undunter Umständen gefoltert, inhaftiert oder gar hingerichtet, wie Zeugen undMenschenrechtsorganisationen übereinstimmend berichten. Sollte die Personschwanger sein, so wird sie häufig zur Abtreibung gezwungen, aus Angstvor »fremden« Kindern – wie auch Flüchtling Bang Mi-sun berichtete. Hinrichtungenoder lebenslange Gefängnisstrafen werden nur bei den vermeintlich»schwersten« Fällen angewendet und vor allem, wenn die Flucht als politischmotiviert angesehen wird oder die Geflohenen in China Kontakt mitMissionaren oder Südkoreanern hatten. Aber bereits eine kürzere Inhaftierungkann, aufgrund der verheerenden Bedingungen, <strong>für</strong> die Zurückgezwungenenlebensbedrohlich werden: Sie bedeuten unzureichende Essensrationen,Zwangsarbeit, mangelhafte Sanitäranlagen und regelmäßige Folter.Das heißt also, selbst wenn Nordkoreaner sich nicht von Beginn ihrerFlucht an als Flüchtlinge qualifizieren, sind spätestens die Umstände, denensie unmittelbar nach der Rückführung in ihr Heimatland ausgesetzt sind, sogravierend, dass es China nach internationalem Recht verboten ist, sie abzuschieben.Eigentlich ist die Volksrepublik völkerrechtlich dazu verpflichtet,den geflohenen Nordkoreanern Asyl als Flüchtlinge sur place zu gewähren.Die Regierung in Peking folgt einem anderen Ansatz. In einem offiziellenBericht hat sie bereits 2005 den UN-Ausschuss über Wirtschaftliche, Sozialeund Kulturelle Rechte über ihren Standpunkt informiert, »dass die Bürgerder DVRK, die illegal nach China einreisen, keine Flüchtlinge sind« – eineAnsicht die China bis heute vertritt. Dies führt auch zu der Selbsteinschätzung,dass man kein internationales Recht breche. Nordkoreanische Migrantensind somit weiterhin gefährdet und rechtlich ungeschützt, sobald sie dieGrenze zur Volksrepublik überschreiten.Peking ignoriert seine humanitären Verpflichtungen und richtet seine Entscheidungenvielmehr an nationalen Prioritäten aus, die darin bestehen, dereigenen Wirtschaft und ihrer Entwicklung ein sicheres und stabiles Umfeldzu gewähren. Die ernüchternde Erkenntnis ist, dass es so etwas wie eine unabhängigehumanitäre Politik nicht gibt, da fast alle Umstände zur gleichenZeit mit politischen und ökonomischen Faktoren eng verwoben sind. DieseVerknüpfung veranlasst Peking, seine Außenpolitik an strategischen Kosten-Nutzen-Rechnungen zu orientieren.Weil die Nachbardiktatur als potentielle Quelle <strong>für</strong> Instabilität in der Regiongilt, ist die chinesische Regierung sehr daran interessiert, den geopolitischenStatus quo mit Nordkorea aufrechtzuerhalten – obwohl der aktuelleStand der Dinge wohl nur die zweitbeste Konstellation <strong>für</strong> China ist. Dennobwohl Peking weiterhin hohe Kosten auf sich nimmt, um den Status quo zubewahren, wird es nicht müde zu betonen, dass Nordkorea aus eigenem Antriebheraus den Pfad allmählicher Wirtschaftsreform einschlagen solle, um >>DEFINITION VON FLUCHT UND VERFOLGUNGArtikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951, 1967 ergänzt, definierteinen Flüchtling als jede Person, die »aus der begründeten Furcht vorVerfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einerbestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sichaußerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und denSchutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieserBe<strong>für</strong>chtungen nicht in Anspruch nehmen will.«Zusätzlich zu dieser Begriffsklärung etabliert die Konvention in Artikel 33den Grundsatz der Nicht-Zurückweisung (»non-refoulement«). Er legt fest, dass»keiner der vertragschließenden Staaten einen Flüchtling auf irgendeine Weiseüber die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen wird, in denensein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit,seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegenseiner politischen Überzeugung bedroht sein würde«. Während Nordkorea dieKonvention und das Protokoll nicht unterzeichnet hat, ist China der Konventionbeigetreten und sogar Mitglied des Exekutivausschusses des Flüchtlingshilfswerksder Vereinten Nationen.ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 88
MENSCHENRECHTEDandong am Fuss Yalu: Seine Prosperität und die der gesamten Grenzregionzu Nordkorea will Peking sicherstellen. Foto: Jacky Lee / CC BY 3.0unabhängiger von chinesischer Unterstützung zu werden und die eigene politischeStabilität gegen einen Kollaps abzusichern. Da Pjöngjang daran regelmäßigscheitert, arrangiert sich Peking mit der Lage, wie sie ist.Auch wohlwissend um das Schicksal der ehemaligen DDR, nachdem Ungarn1989 seine Grenze nach Österreich <strong>für</strong> Ostdeutsche geöffnet hatte, dievon dort in die Bundesrepublik flüchteten und somit ihren Beitrag zum Falldes kommunistischen Regimes leisteten, weist China nordkoreanischeFlüchtlinge lieber ab, als die Stabilität des Regimes in Pjöngjang aufs Spiel zusetzen. Gewährte sie Nordkoreanern den Flüchtlingsstatus, würde die Volksrepublikauf diese Weise nur noch größere Anreize <strong>für</strong> Migranten setzen, dieGrenze zu überqueren.Im Interesse einer stabilen Sicherheitslage dient Nordkorea <strong>für</strong> China – wieehedem seit dem Ende des Koreakrieges – als Puffer zu Südkorea und besonderszu den USA, die weiterhin mehr als 20.000 Soldaten auf der Halbinsel stationierthaben. Diese Pufferfunktion würde sofort wegfallen, falls das Regime der DVRKzusammenbräche und Nordkorea unter die Kontrolle Seouls fiele – womit aucheine amerikanische Streitmacht unmittelbar vor Chinas Haustür stünde. Grundsätzlichbleibt das militärische Sicherheitsinteresse der Volksrepublik also solangegewahrt, wie Nordkorea stabil und die Halbinsel konfliktfrei bleibt.Obwohl dieser Faktor – China würde eine amerikanische Präsenz an seinerGrenze <strong>für</strong>chten – überholt scheint, da er bis in die 1950er Jahre in dieZeit des Kalten Krieges zurückreicht, muss man dieses Interesse im Lichteder enormen Veränderungen betrachten, die die Volksrepublik in den letzten35 Jahren durchlebt hat. 1978 leitete Deng Xiao-ping seine drastischen Dekollektivierungsmaßnahmenzur Belebung der Wirtschaft ein, welche letztlichzu einem nachhaltigen Wandel von der Plan- zur Marktwirtschaft geführthaben, mit bedeutenden Konsequenzen <strong>für</strong> die soziale, ökonomischeund politische Entwicklung des Reichs der Mitte. Allein in den letzten fünfJahren hat sich Chinas Bruttoinlandsprodukt mehr als verdoppelt, und dasLand ist mittlerweile fest in die Weltwirtschaft integriert. Natürlich möchtees diese Errungenschaften nicht gefährdet sehen.Obwohl Chinas Handelsvolumen mit Nordkorea ebenfalls wächst unddurchaus Chancen bestehen, aus den dortigen Rohstoffvorkommen Kapitalzu schlagen, bleibt die DVRK im Vergleich zu den anderen Geschäftspartnernder Volksrepublik ein kleiner Fisch. Dennoch finanziert Peking quasidie Regierung Kim Jong-uns durch Handel und Investitionen, wenngleich dasnordkoreanische Regime international isoliert bleibt, regelmäßig von anderenStaaten und UN-Organisationen <strong>für</strong> seine Politik verurteilt wird und denregionalen Frieden durch sein Nuklearprogramm gefährdet.Tatsächlich hat Chinas rasante ökonomische Entwicklung zu einer Verlagerungseiner Prioritäten geführt, die nun auch auf die wirtschaftliche Stabilitätder geographischen Peripherie setzt, um die Fortsetzung der anhaltendenModernisierung zu gewährleisten. Um also das Wachstum in China aufeinem hohen Niveau zu halten, ist die Regierung in Peking an militärischerSicherheit und wirtschaftlicher Stabilität in der regionalen Nachbarschaftinteressiert, da Unordnung und Chaos potentiell die eigene ökonomischeEntwicklung gefährden könnten.Diese verwobenen Interessen beeinflussen auch Chinas Umgang mitnordkoreanischen Flüchtlingen: Migrantenströme als Folge politischer Instabilitätkönnten das Reich der Mitte mit großen humanitären wie wirt- >>ADLAS 3/2013 ISSN 1869-1684 89