WGT-Arbeitsheft 2013 FrankreichZwangsassimilation kritisiert, zunehmend hat man sich ein wenig davon distanziert.Dennoch prägt es die Diskussion um Integration noch immer stark.Ausländische Arbeitskräfte ersetzten inländisches ProletariatBis in das 19. Jhdt. <strong>war</strong> die größte Kluft in <strong>der</strong> Gesellschaft zwischen den oberen Schichten,die alle Rechte hatten, <strong>und</strong> den arbeitenden Schichten, die keine hatten. Ab 1870 galt es,eine neue Schicht zu organisieren, die keine Rechte hatte: die Auslän<strong>der</strong>Innen.Infolgedessen verlief die neue Trennlinie zwischen StaatsbürgerInnen <strong>und</strong> Auslän<strong>der</strong>Innen<strong>und</strong> dieser Sachverhalt besteht bis heute.Diskriminierungen wurden im Laufe des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts zunehmend weniger, aber sieverschwanden nicht.Heutige ProblematikHeutzutage betrifft diese Diskriminierung verstärkt die Jugendlichen <strong>der</strong> zweiten <strong>und</strong> drittenGeneration: sie sind die Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Enkelkin<strong>der</strong> des Proletariats, das zwischen 1950 <strong>und</strong>1970 im Ausland rekrutiert wurde. Daher erleben sie dieselben sozialen Probleme wie diegesamten unteren Bevölkerungsschichten: hohe Arbeitslosigkeit, Armut, unsichereArbeitsbedingungen, städtische Gewalt, usw.Die Sprachproblematik ist in Frankreich eine ganz an<strong>der</strong>e als in Österreich. Frankreich weisteine jahrh<strong>und</strong>ertelange Tradition einer dominanten einheitlichen Sprachpolitik auf. DerGroßteil <strong>der</strong> Gastarbeiter kam aus ehem. Koloniallän<strong>der</strong>n, <strong>der</strong>en Verwaltungssprache bereitsFranzösisch <strong>war</strong>. In Frankreich redeten diese dann – auch in <strong>der</strong> Familie – vorwiegendFranzösisch. Daher beherrschen die wenigsten MigrantInnen <strong>der</strong> zweiten Generation dieHerkunftssprache <strong>ihr</strong>er Eltern. Dies führt auch zu Identitätskonflikten.Kritik/VorschlägeEs gibt einen Wi<strong>der</strong>spruch zwischen <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach Anpassung <strong>der</strong> ImmigrantInnen<strong>und</strong> <strong>der</strong> tatsächlichen Diskriminierung <strong>der</strong>selben. Im Gegensatz dazu wird von einigenAutorInnen auf die Wichtigkeit <strong>der</strong> Herkunftskultur im Integrationsprozess hingewiesen.Die Bezugnahme auf den Islam wäre demgemäß ein Mittel zur Integration.Der öffentliche, meist populistisch geführte <strong>und</strong> ressentimentgeladene Diskurs vermischt dieunterschiedlichen Zielgruppen. Zugewan<strong>der</strong>te haben an<strong>der</strong>e Bedürfnisse als Nachfahren vonGastarbeitern.Die sogenannte Integrationsproblematik dient vielmehr <strong>der</strong> Verschleierung tieferliegen<strong>der</strong>gesellschaftlicher Missstände. Die Ermöglichung <strong>der</strong> Teilhabe am gesellschaftlichenWohlstand <strong>und</strong> Leben kann also nicht alleine auf dem Feld <strong>der</strong> Integrationspolitik erreichtwerden, sie muss auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene gelingen. Dazu müsste aber dieBereitschaft bestehen, Ungleichheiten <strong>und</strong> Ungerechtigkeiten überhaupt anzuerkennen <strong>und</strong>entschieden zu bekämpfen.Zum WeiterlesenEine Langversion dieses Artikels finden Sie auf unsere Homepage unter „Service“Die Literaturverweise sind nach dem Pressetext zu finden. Zwei deutschsprachige Publikationenempfehlen wir zum Vertiefen in die Themen:- Schicho, Walther (2010): Geschichte Afrikas. Theiss Wissen Kompakt.- Schmid, Bernhard (2011): Frankreich in Afrika. Eine (Neo)Kolonialmacht in <strong>der</strong>Europäischen Union zu Anfang des 21. Jahrh<strong>und</strong>ert. Münster: Unrast Verlag.Mag. a Cécile UndreinerAssistentin Department Volkswirtschaft, WU Wien-12-
WGT-Arbeitsheft 2013 FrankreichRoma in FrankreichDie Zahl <strong>der</strong> Roma in Europa wird auf 10 bis 12 Millionen geschätzt. Roma (<strong>und</strong> Sinti) sindsomit die größte transnationale europäische Min<strong>der</strong>heit. Roma/Romnija <strong>und</strong> Sinti/Sintizzeleben in allen europäischen Län<strong>der</strong>n, <strong>ihr</strong> Anteil an <strong>der</strong> jeweiligen Bevölkerung ist dabei sehrunterschiedlich <strong>und</strong> wird von weit unter 1 % bis knapp über 10 % geschätzt. In denwenigsten Län<strong>der</strong>n wird nach Ethnizität gezählt, auch „gezählte“ Ergebnisse sind gerade fürdie Roma-Min<strong>der</strong>heit oft nicht verlässlich. Für Frankreich liegen die Schätzungen bei300.000 bis 500.000 Roma/Romnija <strong>und</strong> Sinti/Sintizze, <strong>ihr</strong> Anteil an <strong>der</strong> Gesamtbevölkerungist damit ähnlich gering wie in Österreich.Die Geschichte <strong>der</strong> Roma in Europa ist auch eine Geschichte <strong>der</strong> Verfolgung, <strong>der</strong>en traurigerHöhepunkt <strong>der</strong> Nazi-Genozid darstellt, dem im deutschen Reich <strong>und</strong> in den besetztenGebieten ungefähr 500.000 Roma <strong>und</strong> Sinti zum Opfer fielen.Unter <strong>der</strong> Bezeichnung Roma <strong>und</strong> Sinti werden verschiedene Gruppen zusammengefasst,die sich in <strong>ihr</strong>en kulturellen Traditionen, <strong>ihr</strong>en Sprachvarianten bzw. <strong>ihr</strong>er Sprachverwendung(Mehrsprachigkeit) <strong>und</strong> dem Grad <strong>ihr</strong>er Integration in die Mehrheitsgesellschaften <strong>und</strong> –staaten unterscheiden.Für Frankreich sind hier zunächst die Manouches zu nennen, eine Sinti-Gruppe, die seit demMittelalter im deutschsprachigen Raum <strong>und</strong> in den Nie<strong>der</strong>landen lebt. Sie sprechen eineVariante des Romanes. Hauptsächlich im Süden Frankreichs leben die Kalé, eine Gruppevon Roma, die auch in Spanien seit langem beheimatet ist. Ihre Sprache ist das Caló, dasauf Spanisch <strong>und</strong> Katalan basiert <strong>und</strong> viele Ausdrücke aus dem Romanes einschließt.Weitere Gruppen, wie Kal<strong>der</strong>asch <strong>und</strong> Lovara leben seit <strong>der</strong> Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts inFrankreich, sie sprechen Vlax-Varianten des Romanes <strong>und</strong> kamen nach <strong>der</strong> Beendigung <strong>der</strong>Sklaverei <strong>der</strong> Roma in <strong>der</strong> Wallachei <strong>und</strong> Moldawien nach Mittel- <strong>und</strong> Westeuropa.Ab den 1960er Jahren kamen Roma aus Jugoslawien (<strong>und</strong> den Nachfolgestaaten) alsArbeitsmigrantInnen in viele Län<strong>der</strong> Westeuropas, u.a. nach Frankreich. Während die Roma,die vor dem Krieg in Bosnien <strong>und</strong> im Kosovo flohen, eher in an<strong>der</strong>en europäischen Län<strong>der</strong>nAsyl suchten, spielt Frankreich neben Deutschland für die Fluchtbewegung <strong>der</strong> Roma ausRumänien ab 1990 eine beson<strong>der</strong>e Rolle. Die Roma folgten dabei einerseits einerallgemeinen rumänischen Auswan<strong>der</strong>ungsbewegung, an<strong>der</strong>erseits litten sie beson<strong>der</strong>s unter<strong>der</strong> Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> Diskriminierung. Bereits Anfang <strong>der</strong> 90er-Jahre kam es in Rumänienzu antiziganistischen Progromen mit mehreren Todesopfern. Die mediale Aufmerksamkeit,die <strong>der</strong> Zuwan<strong>der</strong>ung osteuropäischer Roma im Westen zu Teil wurde, griff auf alte Mythenvom „staatenlosen, nicht-sesshaften Zigeuner“ zurück <strong>und</strong> bezeichnete die Flüchtlinge als„Armuts- bzw. Scheinasylanten“. Es wurden Visapflichten eingeführt <strong>und</strong>Rücknahmeabkommen abgeschlossen, um die Migration/Flucht rumänischerStaatsbürgerInnen zu erschweren. Politik <strong>und</strong> Medien haben eine verhältnismäßig kleine,aber stigmatisierte Gruppe für <strong>ihr</strong>e Zwecke missbraucht, ein Muster, das schon sehr alt ist,aber offensichtlich noch immer nicht ausgedient hat.Im Sommer <strong>und</strong> Herbst 2010 <strong>war</strong> dieses Muster in Frankreich stärker als europäischesRecht. Nicolas Sarkozy missbrauchte einen Vorfall (ein französischer Rom <strong>war</strong> in einerAuseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Polizei erschossen worden, lokale Ausschreitungen mitSachschäden folgten) zu einem Angriff auf die in Frankreich lebenden rumänischen Roma,wobei er sich altbekannter Stereotypen (Illegalität, Bettelei, Kriminalität) bediente. TausendeRoma/Romnija wurden gegen <strong>ihr</strong>en Willen nach Rumänien <strong>und</strong> Bulgarien ausgeflogen,obwohl ihnen als EU-BürgerInnen das Recht <strong>der</strong> Freizügigkeit zusteht. Dieses Vorgehen <strong>der</strong>französischen Regierung hat zu heftigen Protesten <strong>und</strong> zur Androhung eines EU-Strafverfahrens geführt. Zum Verfahren ist es nicht gekommen, aber <strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> EU hat in-13-