Vive la famille Die Wahlfranzösin Annika Joeres erzählt in ihrem Buch von ihrem Familienalltag und was wir von den Franzosen übers Familienglück lernen können. Für uns gibt sie einen Einblick. 46 SEPTEMBER <strong>2015</strong>
Abgedruckt Illustration: Partner&Partner / iStockphotos Vielleicht hätte ich in einem anderen europäischen Land keine Kinder bekommen. Vielleicht hätte ich als Journalistin meiner Karriere und persönlichen Freiheit den Vorzug gegeben, wie es so viele Akademikerinnen in Deutschland und der Schweiz tun. Ich hätte Angst gehabt, mein Nachwuchs könnte mein Leben so stark verändern, bis es mir unheimlich wird und ich frustriert zu Hause sitze und Pastinakenbrei koche. Aber inzwischen lebe ich in Frankreich – und habe vor wenigen Monaten unser zweites Kind geboren, kaum, dass das erste bis drei zählen kann. Die vielen entspannten französischen Familien haben mich mit ihrer Leichtigkeit angesteckt. Sie machen Lust auf Nachwuchs. Es scheint mir heute natürlich, zwei Söhne in die Welt zu setzen, ohne mein altes Leben komplett über den Haufen zu werfen. So, wie es mir meine französischen Freundinnen und Bekannten vorgemacht haben. Ja, sie sind so entspannt, dass sie sich fast doppelt so viele Kinder zutrauen wie zum Beispiel die Deutschen. Warum französische Paare so zuversichtlich sind? Ihre Kinder laufen selbstverständlicher im Alltag mit. Sie essen beispielsweise grundsätzlich dasselbe wie die Eltern, Extrawürste gibt es nicht – dafür fragte aber mein Sohn schon mit knapp zwei Jahren nach einem Stück Camembert vor dem Dessert. So, wie er es von der Kita gewohnt war. Überhaupt sind französische Familien überzeugt, der normale Alltag in der Familie, den staatlichen Kindergruppen und später in der Ganztagsschule biete ihren Kindern alles, was sie für ein ausgefülltes Leben benötigen. Mit Pekip-Kursen, Babyschwimmen und Englischunterricht für Dreijährige sind meine Freundinnen hier nicht beschäftigt. «Warum macht ihr das alles?», fragte mich Céline, als ich ihr vom deutschen Frühfördermarathon erzählte. Ich wusste keine Antwort. Schliesslich werden französische Kinder auch ohne die aufwendigen Kurse, die den Alltag vieler Mütter bestimmen, zu sichtlich zufriedenen und talentierten Menschen. Natürlich liegt die Unbekümmertheit französischer Eltern auch an der umstandslosen Betreuung in Frankreich. Wir können hier wählen, ob wir unsere Söhne zu einer Tagesmutter geben wollen oder doch lieber in die Dorf-Kita – beide bieten an, ihn von morgens 7 bis abends um 19 Uhr zu empfangen, vor Ort gekochtes Vier-Gänge-Menü inklusive. Aber entscheidend für mein sorgloseres Elterngefühl in Frankreich ist auch die Leichtigkeit, mit der hier Kinder aufgezogen werden. Die französische Gesellschaft stellt an Mütter viel geringere Ansprüche. Eltern sind hier davon überzeugt, dass die Zeit ihrer Kinder mit Gleichaltrigen und Erzieherinnen ebenso wertvoll ist wie Tage in der Familie. Woher sie diese Überzeugung nehmen? Die meisten Franzosen und Französinnen sind als kleine Kinder selbst in die Kita gegangen – für sie ist es so alltäglich, wie es in anderen europäischen normal ist, den Kindergarten zu besuchen. Auch deshalb plagt Französinnen nur sehr selten ein schlechtes Gewissen. Wenn sie als eine der Letzten in der Kita auftauchen, finden sie das sogar prima. «Na, hast du aber ein Glück», hörte ich einmal eine Französin neben mir zu ihrer zweijährigen Amélie sagen, als wir zum Ferienende hin als letzte unsere beiden Kinder abholten. «So spät hast du die Erzieherinnen ganz für dich.» Und inzwischen bin auch ich überzeugt: Wir zahlen die rund 200 Euro im Monat für die Kita nicht nur, damit wir arbeiten und unseren Interessen nachgehen können. Wir zahlen sie auch, damit unser Sohn eine gute Zeit hat – wir könnten ihm die Märchenerzähler, den afrikanischen Trommler und all die Spiele mit Julie, Dorian, Adrién und Meryl zu Hause gar nicht bieten. Und ich möchte nicht meine Tage damit verbringen, Sandkuchen zu backen und Windeln zu wechseln, sondern bin froh, morgens von der Kita aus an den Schreibtisch zu eilen, auch mal in Ruhe lesen und mein Gemüse anbauen zu können. Dabei ist der französische Alltag auch für Männer schöner: Wenn beide Eltern ähnlich viel arbeiten und ähnlich viel Zeit mit ihren Kindern verbringen, können Väter ebenso wichtig sein wie Mütter. Dazu profitieren französische Familien von der 35-Stunden- Woche: Sie garantiert ihnen fünf Stunden mehr Zeit in der Woche für ihren Nachwuchs und eigene Interessen zu haben als die allermeisten Deutschen oder Schweizer. Kürzere Arbeitszeiten sind ein echter politischer Fortschritt für Familien und ermuntern zu mehr Nachwuchs – das hat Frankreich früh erkannt. Im Ringen um mehr Nachwuchs ist es höchste Zeit, den Druck von den Eltern – vor allem von den Müttern – zu nehmen. In Frankreich gilt das Mantra: «Glückliche Eltern haben glückliche Kinder.» Dieser Satz ist mir immer wieder begegnet. «Sie müssen glücklich sein, um ihr Kind glücklich machen zu können», sagte die Kita-Leiterin, als sie mir meine Qualen bei der Anmeldung unseres erst vier Monate alten Sohnes ansah. Und sie hatte recht. Unser Sohn hüpft seitdem jeden Morgen begeistert zu den anderen Kindern in der Kita – und genauso strahlend wirft er sich meinem Mann oder mir abends auch wieder in die Arme. Das Mantra «Glückliche Eltern haben glückliche Kinder» leben uns französische Familien täglich vor. Annika Joeres: Vive la famille. Was wir von den Franzosen übers Familienglück lernen können. Herder, <strong>2015</strong>. 223 Seiten, Fr. 23.90. E-Book Fr. 13.40 Annika Joeres ist Journalistin, stammt aus dem Ruhrgebiet und wohnt seit ein paar Jahren mit ihrem deutschen Mann in Frankreich. Sie hat zwei Söhne, die 2½ Jahre und 4 Monate alt sind. SEPTEMBER <strong>2015</strong>47
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