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Erziehung & Schule<br />
Ein behindertes Kind –<br />
und alles ist anders<br />
Familien mit schwer und mehrfach behinderten Kindern leisten<br />
Aussergewöhnliches: Sie tragen grosse Belastungen, erfahren aber auch<br />
Bereicherungen, die andere in dieser Art nicht kennen. Zu oft haben ihre<br />
Mitmenschen wenig Ahnung davon. Das sollte sich ändern. Text: Lars Mohr<br />
Zwölf Stunden am Tag ist Veronique Christen*<br />
mit ihrer Tochter Carla beschäftigt:<br />
an- und auskleiden, beim Essen helfen,<br />
zusammen spielen, Carla trösten, wenn die<br />
Stimmung kippt, ein Spaziergang, Körperpflege<br />
… Und nachts hat Carla Probleme durchzuschlafen.<br />
Um jeweils wieder Ruhe zu finden, braucht sie meist<br />
die Hilfe ihrer Mutter oder ihres Vaters.<br />
Nichts Ungewöhnliches, mag man denken. Jeder, der<br />
kleine Kinder hat, kennt diese Verpflichtungen. Nach<br />
einer Weile gehts vorbei. Doch für Veronique Christen<br />
geht es nicht vorbei. Carla, kein kleines Kind, sondern<br />
14 Jahre alt, lebt mit einer schweren mehrfachen Behinderung.<br />
Sie zeigt sowohl intellektuell als auch körperlich<br />
starke Einschränkungen, braucht Unterstützung bei fast<br />
allen Aktivitäten des täglichen Lebens. Abgesehen vom<br />
zeitlichen Aufwand ergeben sich daraus zunehmend<br />
physische Beschwerden bei den Eltern. Kreuzschmerzen<br />
– davon können Herr und Frau Christen ein Lied singen.<br />
«Den anderen Leuten ringsherum wurde es erst<br />
bewusst, dass ich in der Nacht gar nie durchschlafe, als<br />
ich ihnen erzählte, wie teuer mich die Privatspitex zu<br />
stehen käme. Da fiel es ihnen wie Schuppen von den<br />
Augen», gibt die Mutter ein Beispiel.<br />
Die Christens sind kein Einzelfall. Genaue Zahlen<br />
über Familien mit einem schwer und mehrfach behinderten<br />
Kind liegen allerdings kaum vor. Wie viele in der<br />
Schweiz wohnen, lässt sich nur schätzen. Zwischen 1000<br />
und 2000 dürften es sein, verglichen mit der Gesamtbevölkerung<br />
eine kleine Gruppe. Auch deswegen stehen<br />
die Betroffenen zu oft im Schatten der Gesellschaft,<br />
obwohl sie Aussergewöhnliches leisten. «Ein behindertes<br />
Kind verändert den Alltag seiner Familie radikal. Es<br />
fordert von allen Beteiligten einen grossen physischen<br />
und psychischen Einsatz», schreibt Monika Seifert in<br />
einem Fachartikel. Die Heilpädagogin kennt das Thema<br />
beruflich durch wissenschaftliche Untersuchungen, privat<br />
als Mutter eines schwer beeinträchtigten Sohnes. Sie<br />
verweist neben den zeitlichen und körperlichen Belastungen<br />
der Eltern auf deren emotionale Auseinandersetzung<br />
mit der Behinderung des Kindes. Bewegende,<br />
mitunter ambivalente Gefühle begleiten oft schon die<br />
Geburt und prägen die anschliessenden Tage und Wochen.<br />
«Ich bin jeden Abend, wenn Carla im Bett war,<br />
weinend zusammengebrochen. Ich wusste nicht, was<br />
auf mich zukam», schildert Veronique Christen ihre<br />
damalige Gemütslage. Das Wunschkind hatte sie sich<br />
anders vorgestellt, der Lebensplan schien gehörig durcheinandergebracht.<br />
Plötzlich war er neu und anders zu<br />
schmieden. Ängste und Verwirrung entstanden: Was<br />
soll aus uns und unserem Kind werden?<br />
Auch eine besondere Bereicherung<br />
Die Geschichte war damit aber nicht zu Ende. «Die meisten<br />
Mütter und Väter entwickeln nach der schwierigen<br />
Anfangsphase eine emotional befriedigende Beziehung<br />
zu ihrem schwer behinderten Kind und geben auf vielfältige<br />
Weise Impulse für seine Entwicklung», betont<br />
Monika Seifert. Denn mit der Zeit gelingt es vielen Familien,<br />
ihr Zusammenleben neu zu organisieren und auf<br />
die unerwarteten Gegebenheiten einzustellen. Trotz der<br />
Mühen des Alltags empfinden sie Zufriedenheit. Mehr<br />
noch: Nicht wenige Mütter und Väter berichten, dass<br />
sie im Umgang mit ihrem beeinträchtigten Kind eine<br />
besondere Bereicherung für sich erfahren. Sie sprechen<br />
etwa davon, einen klareren Blick auf das Wesentliche<br />
im Leben gewonnen zu haben, eine grössere Toleranz<br />
gegenüber anderen oder ein Plus an Selbstvertrauen.<br />
«Man stellt sich ja ein ganz normales Leben vor», erzählt<br />
Veronique Christen, «da mussten wir schon umdenken.<br />
Aber wir sind glücklich, dass wir Carla haben (…). Sie<br />
lebt ganz nach ihrem Instinkt, hat keine Sorgen wie wir.<br />
Sie lebt jeden Tag neu, was sich auch auf uns auswirkt.<br />
Sie zeigte uns eigentlich erst, was Leben heissen sollte.»<br />
56 SEPTEMBER <strong>2015</strong>