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Erziehung & Schule<br />
Die meisten Betroffenen<br />
nehmen genau wahr,<br />
wo ihr Stottern sitzt.<br />
>>> vor. Heute ist der Vertiefungstag<br />
der Camp-Woche. Auch Karl<br />
Schneider stottert, auf eine lockere,<br />
unangestrengte Art. Aber was sich<br />
für den Zuhörer wie eine Sprechstörung<br />
anhört, ist gewollt und die<br />
Demonstration, dass hier das Stottern<br />
nicht nur okay ist, sondern –<br />
anstatt einfach beseitigt – bewusst in<br />
eine lockere Form gelenkt werden<br />
soll.<br />
Auf die Sprechtechnik kommt es an<br />
Segeln, Tauchen, Klettern, ein Baumhaus<br />
bauen, neben den klassischen<br />
sprachtherapeutischen Übungen<br />
wird den Jugendlichen viel geboten.<br />
«Doch wir sind kein Feriencamp für<br />
Stotterer», sagt Wolfgang G. Braun.<br />
Die Verknüpfung von sprachtherapeutischen<br />
Ansätzen mit Elementen<br />
der Erlebnispädagogik und der Psychomotorik<br />
ist bewusst gewählt.<br />
Wolfgang G. Braun: «An der Klet-<br />
terwand machen die Jugendlichen<br />
erst einmal alles mit Kraft und sind<br />
nach einer Stunde fix und fertig. So<br />
ähnlich geht es ihnen beim Sprechen.<br />
Beim Klettern lernen sie, dass mit<br />
der richtigen Technik alles leichter<br />
geht. Das lässt sich wunderbar aufs<br />
Sprechen übertragen.»<br />
Silvan findet das lässig. Dabei<br />
wollte er zuerst gar nicht teilnehmen.<br />
Seine Therapiekarriere war<br />
lang und frustrierend. Wöchentliche<br />
Sitzungen bei der Logopädin, heilpädagogischer<br />
Kindergarten, dann<br />
sprachheilpädagogische Schulen.<br />
Gebracht habe ihm das alles nichts,<br />
sagt er. Im Gegenteil, einmal empfiehlt<br />
ihm eine Fachperson den<br />
Gang zum Psychologen. Sie unterstellt<br />
ihm Lernverweigerung, weil er<br />
seine Hausaufgaben nicht gemacht<br />
hat. Da reicht es ihm. «Mit 14 habe<br />
ich alle Sprachtherapien abgebrochen»,<br />
sagt er. Heute geht er zur<br />
Atemtherapie – und macht grosse<br />
Fortschritte. «Es gibt Tage, da stottere<br />
ich gar nicht.» Und dann kommen<br />
wieder diese Momente, wenn<br />
er müde ist, wenn es hektisch zugeht.<br />
Dann wird der Kauf eines Billetts am<br />
Bahnschalter zur Qual, eine Veranstaltung<br />
mit lauter fremden Leuten<br />
zum Spiessrutenlauf.<br />
«Guten Tag, welche Eissorten<br />
haben Sie denn?» Silvan schaut konzentriert<br />
in die Auslage. Nachdem<br />
die Verkäuferin ihre Aufzählung<br />
beendet hat, trifft er seine Wahl und<br />
bedankt sich. Seine Patin Nina<br />
Biastoch, 28, nickt ihm anerkennend<br />
zu. Keine Blockade, langsam und<br />
bewusst gesprochen habe er. Der<br />
gemeinsame Eiskauf im Ort ist eine<br />
der lebensnahen Praxisaufgaben, die<br />
die Camp-Teilnehmer in Tägerwilen<br />
zu meistern haben.<br />
Nina Biastoch sagt, dass die meisten<br />
Betroffenen genau wahrnehmen,<br />
wo ihr Stottern sitzt, wie es sich anfühlt,<br />
wenn es sie wieder kalt erwischt.<br />
So wie Alina Simon aus dem<br />
deutschen Kaufbeuren. «Ich spüre es<br />
hinten im Hals», sagt die 16-Jährige<br />
und greift an die Stelle, die ihr das<br />
Silvan Vögele ist<br />
sein Handicap<br />
heute nicht mehr<br />
peinlich. Sein<br />
Ziel ist es aber,<br />
ganz stotterfrei<br />
zu werden.<br />
50 SEPTEMBER <strong>2015</strong>