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Psychologie & Gesellschaft<br />
Mamis Schatten<br />
auf der Seele<br />
Wenn Mutter und Vater psychisch erkranken, schlüpfen die Kinder oft in<br />
die Rolle des Erwachsenen. So wie die 13-jährige Selma. Als ihre Mutter<br />
an Depressionen und Alkoholismus erkrankte, wurde das Mädchen zu<br />
ihrer stillen Komplizin. Eine Geschichte voller Wut, Trauer und<br />
Überforderung. Text: Silvia Aeschbach Fotos: Daniel Auf Der Mauer / 13 Photo<br />
Selma* war acht Jahre alt, als<br />
sie merkte, dass ihre Mutter<br />
ein Problem hat. «Bei<br />
einer Geburtstagsparty<br />
klappte sie einfach zusammen.<br />
Ich sah sie am Boden liegen<br />
und bin total erschrocken. Am<br />
nächsten Tag sagte sie zu mir, ich<br />
dürfe niemandem erzählen, dass sie<br />
krank sei. Das habe ich auch nie<br />
gemacht», erzählt das hochgewachsene<br />
Mädchen. Wenn Selma über<br />
ihre Vergangenheit spricht, dann<br />
ruhig und abgeklärt. Nur ihre Finger,<br />
die sie immer wieder ineinander<br />
verknotet, zeigen ihre unterschwellige<br />
Nervosität.<br />
Selma ist 13 Jahre alt. Sie liebt<br />
ihren Hund Lucky, spielt Volleyball<br />
und ist eine richtige Zeichenkünstlerin.<br />
«Das Zeichnen ist eine Form,<br />
ihre Vergangenheit zu verarbeiten»,<br />
sagt die Psychologin, zu der Selma<br />
alle 14 Tage geht. Gemeinsam sitzen<br />
wir an diesem regnerischen Mittwochnachmittag<br />
im Büro eines Kinder-<br />
und Jugendpsychiatrischen<br />
Dienstes.<br />
Selma möchte mir ihre Geschichte<br />
erzählen, «damit ich anderen Kindern<br />
helfen kann, die auch so etwas<br />
wie ich erleben». Selmas Mutter,<br />
Elena, war depressiv und alkoholkrank.<br />
Vor zwei Jahren hat sie<br />
sich unter einen Zug geworfen. «Als<br />
sie mir sagten, wie sie sich umgebracht<br />
hatte, wurde ich böse. So<br />
haben auch noch andere Leute leiden<br />
müssen», sagt Selma bestimmt.<br />
Und etwas weicher fügt sie an: «Aber<br />
s Mami war halt krank.»<br />
Selma und ihre Mutter Elena<br />
waren ein eingeschworenes Team.<br />
Die alleinerziehende Mutter, sie<br />
trennte sich von Selmas Vater, als<br />
Selma dreijährig war, und ihre Tochter<br />
machten fast alles zusammen.<br />
«Aber als sie krank wurde, musste<br />
ich auf sie aufpassen», sagt Selma<br />
mit grosser Selbstverständlichkeit.<br />
«Und auch auf mich», fügt sie an.<br />
«Ich stellte am Morgen meinen<br />
Wecker, weil Mami immer länger<br />
geschlafen hat. Und ich wollte nicht<br />
zu spät in die Schule kommen.»<br />
Wie war das, als das Mami noch<br />
gesund war? «Das war lässig.<br />
Manchmal nahm sie mich mit, wenn<br />
sie Sachen mit dem Lieferwagen<br />
auszufahren hatte, dann hatten wir<br />
es total lustig. Aber dann wurde sie<br />
immer unglücklicher. Sie erzählte<br />
mir ein bisschen über ihre Sorgen.»<br />
Unwillkürlich überkommt einen das<br />
Gefühl, dass Selma anfänglich stolz<br />
war, Freundin, Vertraute und Geheimnisträgerin<br />
ihrer Mutter zu<br />
sein. «Aber es machte mich auch<br />
traurig, dass ich ihr nicht wirklich<br />
helfen konnte.»<br />
Nach dem Vorfall am Geburtstag<br />
ringt Elena dem Mädchen ein Versprechen<br />
ab: «Du darfst niemandem<br />
sagen, dass ich krank bin. Das ist<br />
jetzt unser Geheimnis. Kannst du es<br />
für dich behalten?» Und Selma hält<br />
dicht. Und wieder schwingt dieser<br />
Stolz in ihrer Stimme mit: «Meine<br />
Lehrerin hat mir später mal gesagt,<br />
man hätte mir nicht angesehen, dass<br />
es bei mir zu Hause Probleme gebe.»<br />
Um ihrem Kind ihre Krankheit<br />
zu erklären, hatte Elena ein >>><br />
«Du darfst niemandem sagen,<br />
dass ich krank bin. Das ist jetzt<br />
unser Geheimnis.»<br />
66 SEPTEMBER <strong>2015</strong>