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Kolumne<br />
Ein Prost auf<br />
mütterliche Selbstzweifel<br />
Michèle Binswanger<br />
Die studierte Philosophin<br />
ist Journalistin und Buchautorin.<br />
Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen,<br />
ist Mutter zweier Kinder<br />
und lebt in Basel.<br />
Es war eine laue Sommernacht in der Toskana. Die italienische<br />
Hochzeit eines Freundes wurde gefeiert, wir sassen in Zelten<br />
unter Lüstern an einer fürstlich gedeckten Tafel mit üppigen<br />
Blumengebinden und klirrendem Kristall. Während der Tischrede<br />
des Bräutigams füllten herumschwirrende Kellner die Gläser,<br />
dasjenige meiner bald vierzehnjährigen Tochter und meines Elfjährigen blieb<br />
selbstverständlich leer. Nicht ganz so selbstverständlich für sie. Als die<br />
Tischgesellschaft die Gläser hob, um anzustossen, folgten die erwartungsfrohen<br />
Blicke der Tochter dem Weg meines Glases an meine Lippen und von dort<br />
wieder auf den Tisch, worauf sie die Hand danach ausstreckte und mit<br />
einem weiteren Blick fragte: «Ich darf?» Sie durfte, und der Kleine quakte<br />
hintendrein: «Ich will auch!»<br />
Bislang hielt ich es mit Alkohol und den Kindern so, dass sie jeweils ein<br />
Schlückchen probieren durften, wenn die Erwachsenen trinken. Was ich<br />
insofern unproblematisch fand, als ich weder eine Martini- noch eine Prosecco-<br />
Mutter bin und zu Hause so gut wie gar keinen Alkohol trinke, es sei denn,<br />
ich habe Gäste. Doch in den Ferien ist meistens alles ein bisschen anders,<br />
und so auch hier. Oft gab es mittags schon Wein, und die Kinder baten jedes<br />
Mal um einen Schluck. Und hier bei der Hochzeit bedeutete der Blick meiner<br />
Tochter schon mehr als Bitten, es war eine Forderung. Der Sohn folgte<br />
ihrem Beispiel, was er mit besonderem Vergnügen dann tut, wenn ich das<br />
für eine schlechte Idee halte: Wenn sie darf, dann darf ich auch!<br />
Wieder einmal stellten sich mir all die erzieherischen Fragen, auf die es<br />
vielleicht keine eindeutige Antwort gibt. Sollten Eltern ihren Kindern Alkohol<br />
strikt verbieten in der Hoffnung, die Kinder mögen möglichst spät die<br />
Freuden des Rausches entdecken – was sie ohnehin irgendwann werden?<br />
Oder ist es besser, ihnen einen kontrollierten Zugang zu gewähren? Das Thema<br />
berührt mich besonders. Denn obschon ich mich nicht als Suchtmenschen<br />
einschätze, bin ich dem Rausch nicht abgeneigt. Und wie beim Rausch stellt<br />
sich auch in der Erziehung immer wieder die Frage: Wie viel ist genug, was<br />
ist zu viel? Und wo liegt die Grenze? Oder besser: Wie weit darf ich mich über<br />
die Grenze hinauswagen, ohne den Boden zu verlieren?<br />
Vorbild ist alles in der Erziehung, und ich mag in vielen Hinsichten<br />
unzulänglich sein. Meiner Tochter habe ich immerhin das mit auf den Weg<br />
gegeben: die Einstellung, alles mit Mass zu geniessen, immer mit dem Auge<br />
auf den Konsequenzen. Und Respekt, um nicht zu sagen Angst vor<br />
der Abhängigkeit. Aber wie viel können Eltern diesbezüglich beeinflussen?<br />
Was meine Tochter betrifft, habe ich wenig Bedenken. Doch der Sohn kommt<br />
mehr nach mir. Und ich weiss, wie oft es wohl einfach nur Glück war, dass<br />
ich nicht auf eine schiefe Bahn geriet. Als er an der Hochzeit lautstark seinen<br />
Schluck einforderte, sagte ich ihm: Nein, ich glaube heute nicht. Und nahm<br />
meinerseits einen grossen Schluck aus dem Tümpel der mütterlichen<br />
Selbstzweifel. Man weiss nie, ob man ein Kind gerade vor etwas bewahrt<br />
oder im Gegenteil etwas angestossen hat, was man verhindern wollte.<br />
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren<br />
64 SEPTEMBER <strong>2015</strong>