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07/2015

Fritz + Fränzi

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Kolumne<br />

Ein Prost auf<br />

mütterliche Selbstzweifel<br />

Michèle Binswanger<br />

Die studierte Philosophin<br />

ist Journalistin und Buchautorin.<br />

Sie schreibt zu Gesellschaftsthemen,<br />

ist Mutter zweier Kinder<br />

und lebt in Basel.<br />

Es war eine laue Sommernacht in der Toskana. Die italienische<br />

Hochzeit eines Freundes wurde gefeiert, wir sassen in Zelten<br />

unter Lüstern an einer fürstlich gedeckten Tafel mit üppigen<br />

Blumengebinden und klirrendem Kristall. Während der Tischrede<br />

des Bräutigams füllten herumschwirrende Kellner die Gläser,<br />

dasjenige meiner bald vierzehnjährigen Tochter und meines Elfjährigen blieb<br />

selbstverständlich leer. Nicht ganz so selbstverständlich für sie. Als die<br />

Tischgesellschaft die Gläser hob, um anzustossen, folgten die erwartungsfrohen<br />

Blicke der Tochter dem Weg meines Glases an meine Lippen und von dort<br />

wieder auf den Tisch, worauf sie die Hand danach ausstreckte und mit<br />

einem weiteren Blick fragte: «Ich darf?» Sie durfte, und der Kleine quakte<br />

hintendrein: «Ich will auch!»<br />

Bislang hielt ich es mit Alkohol und den Kindern so, dass sie jeweils ein<br />

Schlückchen probieren durften, wenn die Erwachsenen trinken. Was ich<br />

insofern unproblematisch fand, als ich weder eine Martini- noch eine Prosecco-<br />

Mutter bin und zu Hause so gut wie gar keinen Alkohol trinke, es sei denn,<br />

ich habe Gäste. Doch in den Ferien ist meistens alles ein bisschen anders,<br />

und so auch hier. Oft gab es mittags schon Wein, und die Kinder baten jedes<br />

Mal um einen Schluck. Und hier bei der Hochzeit bedeutete der Blick meiner<br />

Tochter schon mehr als Bitten, es war eine Forderung. Der Sohn folgte<br />

ihrem Beispiel, was er mit besonderem Vergnügen dann tut, wenn ich das<br />

für eine schlechte Idee halte: Wenn sie darf, dann darf ich auch!<br />

Wieder einmal stellten sich mir all die erzieherischen Fragen, auf die es<br />

vielleicht keine eindeutige Antwort gibt. Sollten Eltern ihren Kindern Alkohol<br />

strikt verbieten in der Hoffnung, die Kinder mögen möglichst spät die<br />

Freuden des Rausches entdecken – was sie ohnehin irgendwann werden?<br />

Oder ist es besser, ihnen einen kontrollierten Zugang zu gewähren? Das Thema<br />

berührt mich besonders. Denn obschon ich mich nicht als Suchtmenschen<br />

einschätze, bin ich dem Rausch nicht abgeneigt. Und wie beim Rausch stellt<br />

sich auch in der Erziehung immer wieder die Frage: Wie viel ist genug, was<br />

ist zu viel? Und wo liegt die Grenze? Oder besser: Wie weit darf ich mich über<br />

die Grenze hinauswagen, ohne den Boden zu verlieren?<br />

Vorbild ist alles in der Erziehung, und ich mag in vielen Hinsichten<br />

unzulänglich sein. Meiner Tochter habe ich immerhin das mit auf den Weg<br />

gegeben: die Einstellung, alles mit Mass zu geniessen, immer mit dem Auge<br />

auf den Konsequenzen. Und Respekt, um nicht zu sagen Angst vor<br />

der Abhängigkeit. Aber wie viel können Eltern diesbezüglich beeinflussen?<br />

Was meine Tochter betrifft, habe ich wenig Bedenken. Doch der Sohn kommt<br />

mehr nach mir. Und ich weiss, wie oft es wohl einfach nur Glück war, dass<br />

ich nicht auf eine schiefe Bahn geriet. Als er an der Hochzeit lautstark seinen<br />

Schluck einforderte, sagte ich ihm: Nein, ich glaube heute nicht. Und nahm<br />

meinerseits einen grossen Schluck aus dem Tümpel der mütterlichen<br />

Selbstzweifel. Man weiss nie, ob man ein Kind gerade vor etwas bewahrt<br />

oder im Gegenteil etwas angestossen hat, was man verhindern wollte.<br />

Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren<br />

64 SEPTEMBER <strong>2015</strong>

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