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Erziehung & Schule<br />
>>> lagung zum Stottern vererbt<br />
wird, aber nicht das Stottern an sich.<br />
Die genetische Disposition alleine<br />
führt also noch nicht zu einem Stottern.<br />
Möglicherweise sind auch<br />
kleinste Schäden oder Veränderungen<br />
im Gehirn daran beteiligt und<br />
stören zum Beispiel die Koordination<br />
der am Sprechen beteiligten<br />
Muskeln. Unterscheiden muss man<br />
ursächliche und auslösende Faktoren.<br />
Der Wechsel in eine neue Klasse,<br />
die Geburt eines Geschwisters,<br />
ein Unfall, Schulstress oder die<br />
Scheidung der Eltern können Auslöser<br />
für das Stottern sein. Sie sind<br />
aber nicht die Ursache. Tritt das Stottern<br />
beim Kind dann auf, kann verunsicherndes<br />
Verhalten des Umfeldes<br />
das Stottern begünstigen und<br />
aufrechterhalten.<br />
Wie meinen Sie das?<br />
80 Prozent der Kinder machen zwischen<br />
dem dritten und sechsten<br />
Lebensjahr eine Phase durch, in der<br />
sie nicht flüssig sprechen. Bei einem<br />
Grossteil von ihnen geben sich diese<br />
Schwierigkeiten ganz von alleine.<br />
Fordern die Eltern ihr Kind jedoch<br />
ständig auf, langsamer und deutlich<br />
zu sprechen, machen sie es erst recht<br />
auf diese Störung aufmerksam, was<br />
dazu führen kann, dass sie sich in<br />
einem Stottern manifestiert.<br />
Wenn diese Kinder in die Pubertät<br />
kommen, haben sie es sicher nicht<br />
leicht. Man will dazugehören, bloss<br />
nicht auffallen.<br />
Das ist nicht zwangsläufig gesagt.<br />
Unter den Stotterern kenne ich sehr<br />
selbstbewusste, in sich ruhende Persönlichkeiten.<br />
Sie mussten schon<br />
früh lernen, sich mit ihrem Handicap<br />
zu behaupten. Aber es stimmt<br />
schon – Stottern ist eine Herausforderung,<br />
gerade wenn die Gruppe der<br />
Gleichaltrigen wichtiger wird.<br />
Viele Stotterer berichten, dass sie an<br />
manchen Tagen überhaupt nicht stottern,<br />
während ihnen an anderen das<br />
Sprechen sehr schwerfällt.<br />
Das ist das Heimtückische an diesem<br />
Handicap. Wir erklären uns dies an<br />
einem Küchenwaagen-Modell. Um<br />
flüssig zu sprechen, braucht es ein<br />
Gleichgewicht zwischen Anforderung<br />
und Kapazitäten des Kindes.<br />
Äussere Faktoren wie Prüfungsstress,<br />
Veränderungen oder Schlafmangel<br />
können dieses Gleichgewicht<br />
aufheben – dieses Ungleichgewicht<br />
macht ein entspanntes, lockeres<br />
Sprechen mühsamer.<br />
Welches sind die am meisten gefürchteten<br />
Alltagssituationen für jugendliche<br />
Stotterer?<br />
Das kann sehr unterschiedlich sein.<br />
Manchen fällt es schwer, zu telefonieren.<br />
Andere haben damit kein<br />
Problem, ihnen treibt vielleicht die<br />
Vorstellung, vor einer Gruppe sprechen<br />
zu müssen, die Schweissperlen<br />
auf die Stirn. Ich rate Betroffenen zu<br />
einem offenen Umgang mit dem<br />
Handicap. So kann man beispielsweise<br />
zu Beginn eines Referates darauf<br />
hinweisen, dass es eventuell<br />
etwas länger dauern wird, da man<br />
an der einen oder anderen Stelle längere<br />
Zeit für die Worte braucht. Das<br />
nimmt dem Betroffenen den Druck<br />
und verbessert nicht zuletzt den<br />
Sprechfluss.<br />
In einem geschützten Raum ist das<br />
leichter machbar. Bei der Lehrstellensuche<br />
möchten Betroffene ihr Handicap<br />
aber sicherlich nicht direkt zu<br />
Beginn preisgeben.<br />
Das mag sein. Ich rate aber auch hier<br />
grundsätzlich zur Offenheit. Und<br />
auch dazu, die Berufswahl nicht<br />
schon im Voraus aufgrund der Kommunikationsbeeinträchtigung<br />
stark<br />
einzugrenzen.<br />
Ist Stottern heilbar?<br />
Das Stottern wächst sich nicht aus.<br />
Aber in der – möglichst frühen –<br />
Therapie bekommen Kinder vom<br />
Kleinkind- bis ins Jugendalter eine<br />
gute Chance, souverän mit dem Stottern<br />
umzugehen, oder Sprechtechniken<br />
zu erlernen, die ein Stottern<br />
erst gar nicht auftreten lassen.<br />
Was heisst das?<br />
Sie sprechen so flüssig, dass ihnen<br />
kaum jemand das Stottern anmerkt.<br />
Dafür kombinieren wir in Therapie-<br />
Settings wie dem Stottercamp zwei<br />
Methoden: Der «Nicht-Vermeidungs-Ansatz»<br />
soll die Kinder dazu<br />
bringen, das Stottern nicht krampfhaft<br />
zu umgehen und die Angst davor<br />
zu verlieren. Sie erlernen einen<br />
selbstbewussten Umgang mit dem<br />
Stottern. Zum anderen vermitteln<br />
wir eine Sprechtechnik, die flüssiges<br />
Sprechen fördert.<br />
Wie reagiert man am besten auf einen<br />
Stotterer?<br />
Das Wichtigste ist, gegenüber dem<br />
Gesprächspartner ein normales<br />
Kommunikationsverhalten zu<br />
bewahren. Dazu gehören Blickkontakt<br />
und geduldiges Zuhören, so<br />
signalisiert man: «Ich habe Zeit, ich<br />
höre dir zu.» Diesen Tipp möchte ich<br />
vor allem auch Eltern betroffener<br />
Kinder und deren Lehrern mit auf<br />
den Weg geben. Ratschläge wie<br />
«Sprich langsam», «Überleg doch<br />
erst mal» verunsichern das Kind nur<br />
und verstärken letztendlich das Stottern.<br />
>>><br />
Wolfgang G. Braun<br />
Prof., ist Dozent an der Interkantonalen<br />
Hochschule für Heilpädagogik HfH Zürich.<br />
54 SEPTEMBER <strong>2015</strong>