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Psychologie & Gesellschaft<br />
>>> Bilderbuch gekauft, das von<br />
einer alkoholkranken Mutter handelt.<br />
«Wir haben das Buch zusammen<br />
angeschaut, aber das war<br />
eigentlich gar nicht nötig, ich wusste<br />
ja schon lange, was dem Mami<br />
fehlt. Und dass es kein Traubensaft<br />
war, den sie sich immer einschenkte»,<br />
sagt Selma mit einem verschmitzten<br />
Lachen. Man merkt, das<br />
Mädchen hat Distanz zum Erlebten<br />
gefunden, und doch zittert ihre<br />
Stimme leicht, wenn sie erzählt, dass<br />
sie sich abends oft in den Schlaf<br />
weinte, wenn das Mami zu viel getrunken<br />
hatte. «Dann war sie immer<br />
so weit weg und ganz komisch.»<br />
Hatte Selma denn nie das Bedürfnis,<br />
mit jemandem darüber zu reden?<br />
«Doch, manchmal schon. Und<br />
dann hatte ich ein schlechtes Gewissen.<br />
Neben mir wussten nur Mamis<br />
Eltern und ihr Bruder, mein Götti,<br />
welche Probleme das Mami hat.»<br />
Elenas Sucht und ihre Depressionen<br />
wurden stärker. In den folgenden<br />
zwei Jahren war die alleinerziehende<br />
Mutter zunehmend über-<br />
Intuitiv spürte Selma, dass ihre<br />
Mutter nicht alleine sterben<br />
wollte. Sie wollte, dass Selma<br />
mit ihr stirbt.<br />
fordert. Mit ihrem Ex-Mann und<br />
ihren Eltern wollte sie keinen Kontakt<br />
mehr, Geldsorgen kamen hinzu.<br />
Und immer häufiger gab es Streit<br />
zwischen Mutter und Tochter. Warum?<br />
«Daran kann ich mich nicht<br />
mehr erinnern», sagt Selma und<br />
zwirbelt ihr langes braunes Haar.<br />
«Ich weiss nur, dass ich es ihr nie<br />
recht machen konnte. Es brauchte<br />
nicht viel und s Mami flippte aus.»<br />
Und manchmal brach Elena einfach<br />
zusammen. «An einem Abend<br />
hörte ich, wie sie in der Küche weinte.<br />
Ich ging zu ihr, sie sass auf dem<br />
Boden. Ich gab mir Mühe, nicht<br />
auch zu weinen, und versuchte sie<br />
zu trösten. Dann sagte sie: ‹Ich<br />
möchte nur noch sterben.› Da wurde<br />
ich hässig und sagte: ‹Du kannst<br />
mich doch nicht alleine lassen, was<br />
fällt dir ein?›» Doch intuitiv spürte<br />
Selma, dass ihre Mutter nicht alleine<br />
in den Tod gehen wollte. «Sie wollte,<br />
dass ich mit ihr sterbe. Jedes Mal<br />
beim Autofahren kroch ich fast in<br />
den Sitz hinein, weil ich fürchtete,<br />
sie könnte plötzlich das Steuer rumreissen.<br />
Und ich wollte nicht sterben.»<br />
Bist du Mami heute böse deswegen?<br />
Selma überlegt nicht lange:<br />
«Nein, nicht mehr. Sie wollte mich<br />
halt nicht alleine lassen. Und sie litt<br />
zunehmend darunter, dass sie mir<br />
zur Last fiel.»<br />
Selma übernimmt zunehmend<br />
Erwachsenenpflichten: «Mama hat<br />
alles mit mir besprochen. Manchmal<br />
war mir das fast zu viel Offenheit.<br />
Ich war ihre einzige Vertraute. Sie<br />
sagte immer: ‹Du bist die Einzige,<br />
die für mich da ist.›» Selma ist zu<br />
diesem Zeitpunkt 10 Jahre alt. Das<br />
Mädchen übernimmt mehr und<br />
mehr Haushaltspflichten. «Wenn<br />
Mama am Morgen länger schlafen<br />
musste, weil sie eine schlechte >>><br />
«Kinder sollen nicht die Verantwortung für ihre<br />
Eltern übernehmen müssen»<br />
Die Psychologin Irène Koch über ihre Arbeit mit Kindern von psychisch belasteten Eltern.<br />
Interview: Silvia Aeschbach<br />
Frau Koch, für Eltern mit psychischen<br />
Problemen gibt es in Winterthur neu eine<br />
therapeutische Elterngruppe. Wie ist es<br />
dazu gekommen?<br />
Im Gegensatz zu einer somatischen<br />
Erkrankung sind psychische Störungen<br />
vielfach immer noch stigmatisiert. Viele<br />
Betroffene haben darum Schuld- und<br />
Schamgefühle und machen sich grosse<br />
Sorgen um das Wohl ihrer Kinder. Sie<br />
wollen, dass sich diese trotz der momentan<br />
schwierigen Lage gut entwickeln können.<br />
Und wo setzt die Gruppentherapie ein?<br />
Wir arbeiten zunächst präventiv und<br />
helfen den Eltern, mit ihren Kindern<br />
altersgerecht über die Probleme zu reden.<br />
Bei einem kleineren Kind kann man das<br />
zum Beispiel mit einem Bilderbuch<br />
machen. Die Kinder sollen das Gefühl<br />
bekommen, dass sie nicht die Verantwortung<br />
für das Mami oder den Papi übernehmen<br />
müssen. Das kann entlasten.<br />
Welche Krankheiten haben die Eltern?<br />
Das ist sehr gemischt. Depressionen,<br />
Angst-, Zwangs- oder Persönlichkeitsstörungen,<br />
Alkoholprobleme, Borderline<br />
oder Psychosen. Es sind mehr Frauen als<br />
Männer.<br />
Wo liegen die Schwierigkeiten für die<br />
Kinder mit einem Elternteil, der psychische<br />
Probleme hat?<br />
Viele Kinder sind überfordert und müssen<br />
zum Beispiel Aufgaben übernehmen,<br />
die nicht altersgerecht sind. Oder sie<br />
wissen nicht, was sie jetzt über die Krankheit<br />
erzählen dürfen. Oft gilt in Familien<br />
auch ein unausgesprochenes Kommunikationsverbot.<br />
Viele Kinder fühlen sich<br />
68 SEPTEMBER <strong>2015</strong>