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07/2015

Fritz + Fränzi

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Psychologie & Gesellschaft<br />

>>> Bilderbuch gekauft, das von<br />

einer alkoholkranken Mutter handelt.<br />

«Wir haben das Buch zusammen<br />

angeschaut, aber das war<br />

eigentlich gar nicht nötig, ich wusste<br />

ja schon lange, was dem Mami<br />

fehlt. Und dass es kein Traubensaft<br />

war, den sie sich immer einschenkte»,<br />

sagt Selma mit einem verschmitzten<br />

Lachen. Man merkt, das<br />

Mädchen hat Distanz zum Erlebten<br />

gefunden, und doch zittert ihre<br />

Stimme leicht, wenn sie erzählt, dass<br />

sie sich abends oft in den Schlaf<br />

weinte, wenn das Mami zu viel getrunken<br />

hatte. «Dann war sie immer<br />

so weit weg und ganz komisch.»<br />

Hatte Selma denn nie das Bedürfnis,<br />

mit jemandem darüber zu reden?<br />

«Doch, manchmal schon. Und<br />

dann hatte ich ein schlechtes Gewissen.<br />

Neben mir wussten nur Mamis<br />

Eltern und ihr Bruder, mein Götti,<br />

welche Probleme das Mami hat.»<br />

Elenas Sucht und ihre Depressionen<br />

wurden stärker. In den folgenden<br />

zwei Jahren war die alleinerziehende<br />

Mutter zunehmend über-<br />

Intuitiv spürte Selma, dass ihre<br />

Mutter nicht alleine sterben<br />

wollte. Sie wollte, dass Selma<br />

mit ihr stirbt.<br />

fordert. Mit ihrem Ex-Mann und<br />

ihren Eltern wollte sie keinen Kontakt<br />

mehr, Geldsorgen kamen hinzu.<br />

Und immer häufiger gab es Streit<br />

zwischen Mutter und Tochter. Warum?<br />

«Daran kann ich mich nicht<br />

mehr erinnern», sagt Selma und<br />

zwirbelt ihr langes braunes Haar.<br />

«Ich weiss nur, dass ich es ihr nie<br />

recht machen konnte. Es brauchte<br />

nicht viel und s Mami flippte aus.»<br />

Und manchmal brach Elena einfach<br />

zusammen. «An einem Abend<br />

hörte ich, wie sie in der Küche weinte.<br />

Ich ging zu ihr, sie sass auf dem<br />

Boden. Ich gab mir Mühe, nicht<br />

auch zu weinen, und versuchte sie<br />

zu trösten. Dann sagte sie: ‹Ich<br />

möchte nur noch sterben.› Da wurde<br />

ich hässig und sagte: ‹Du kannst<br />

mich doch nicht alleine lassen, was<br />

fällt dir ein?›» Doch intuitiv spürte<br />

Selma, dass ihre Mutter nicht alleine<br />

in den Tod gehen wollte. «Sie wollte,<br />

dass ich mit ihr sterbe. Jedes Mal<br />

beim Autofahren kroch ich fast in<br />

den Sitz hinein, weil ich fürchtete,<br />

sie könnte plötzlich das Steuer rumreissen.<br />

Und ich wollte nicht sterben.»<br />

Bist du Mami heute böse deswegen?<br />

Selma überlegt nicht lange:<br />

«Nein, nicht mehr. Sie wollte mich<br />

halt nicht alleine lassen. Und sie litt<br />

zunehmend darunter, dass sie mir<br />

zur Last fiel.»<br />

Selma übernimmt zunehmend<br />

Erwachsenenpflichten: «Mama hat<br />

alles mit mir besprochen. Manchmal<br />

war mir das fast zu viel Offenheit.<br />

Ich war ihre einzige Vertraute. Sie<br />

sagte immer: ‹Du bist die Einzige,<br />

die für mich da ist.›» Selma ist zu<br />

diesem Zeitpunkt 10 Jahre alt. Das<br />

Mädchen übernimmt mehr und<br />

mehr Haushaltspflichten. «Wenn<br />

Mama am Morgen länger schlafen<br />

musste, weil sie eine schlechte >>><br />

«Kinder sollen nicht die Verantwortung für ihre<br />

Eltern übernehmen müssen»<br />

Die Psychologin Irène Koch über ihre Arbeit mit Kindern von psychisch belasteten Eltern.<br />

Interview: Silvia Aeschbach<br />

Frau Koch, für Eltern mit psychischen<br />

Problemen gibt es in Winterthur neu eine<br />

therapeutische Elterngruppe. Wie ist es<br />

dazu gekommen?<br />

Im Gegensatz zu einer somatischen<br />

Erkrankung sind psychische Störungen<br />

vielfach immer noch stigmatisiert. Viele<br />

Betroffene haben darum Schuld- und<br />

Schamgefühle und machen sich grosse<br />

Sorgen um das Wohl ihrer Kinder. Sie<br />

wollen, dass sich diese trotz der momentan<br />

schwierigen Lage gut entwickeln können.<br />

Und wo setzt die Gruppentherapie ein?<br />

Wir arbeiten zunächst präventiv und<br />

helfen den Eltern, mit ihren Kindern<br />

altersgerecht über die Probleme zu reden.<br />

Bei einem kleineren Kind kann man das<br />

zum Beispiel mit einem Bilderbuch<br />

machen. Die Kinder sollen das Gefühl<br />

bekommen, dass sie nicht die Verantwortung<br />

für das Mami oder den Papi übernehmen<br />

müssen. Das kann entlasten.<br />

Welche Krankheiten haben die Eltern?<br />

Das ist sehr gemischt. Depressionen,<br />

Angst-, Zwangs- oder Persönlichkeitsstörungen,<br />

Alkoholprobleme, Borderline<br />

oder Psychosen. Es sind mehr Frauen als<br />

Männer.<br />

Wo liegen die Schwierigkeiten für die<br />

Kinder mit einem Elternteil, der psychische<br />

Probleme hat?<br />

Viele Kinder sind überfordert und müssen<br />

zum Beispiel Aufgaben übernehmen,<br />

die nicht altersgerecht sind. Oder sie<br />

wissen nicht, was sie jetzt über die Krankheit<br />

erzählen dürfen. Oft gilt in Familien<br />

auch ein unausgesprochenes Kommunikationsverbot.<br />

Viele Kinder fühlen sich<br />

68 SEPTEMBER <strong>2015</strong>

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