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Berliner Zeitung 27.04.2019

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10 * <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 97 · 2 7./28. April 2019<br />

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Berlin<br />

Harmsens Berlin<br />

Der eene sacht<br />

so, der andre so<br />

Kampftag<br />

Torsten Harmsen findet<br />

die neue Slogan-Kampagne<br />

für die Stadt überflüssig.<br />

Was eigentlich ist Berlin? Wirwissen<br />

es nicht genau. Doch die<br />

Oberen der Stadt suchen wieder mal<br />

nach einem Slogan, der die chaotische<br />

Realität der Stadt in einem einzigen<br />

Spruch zusammenfasst. So nach<br />

dem Motto: „Berlin –der eene sacht<br />

so,der andreso!“<br />

Meine Meinung ist: Lasst es sein!<br />

Die letzte Kampagne „be.berlin“ war<br />

ja ganz hübsch. Sprüche wie „Sei einzigartig,<br />

sei vielfältig, sei Berlin“ klingen<br />

rhythmisch sehr schön. Aber<br />

auch ein bisschen verkrampft. Wozu<br />

braucht man das?<br />

Berlin hat Jahrhunderte existiert,<br />

ohne es nötig zu haben, auf einen<br />

Spruch gebracht zu werden –auch<br />

wenn da sicher immer mal etwas zusammengedichtet<br />

wurde. „Berlin –<br />

wie haste dir verändert“, wabert mir<br />

aus früheren Zeiten im Kopf herum.<br />

Auch was mit „Herz und Schnauze“<br />

und„Spreeathen“, mit„Insel im roten<br />

Meer“ und dem „Insulaner“, der angeblich<br />

die Ruhe nicht verliert.<br />

Man stelle sich vor, die Stadtoberen<br />

hätten schon vor Jahrhunderten<br />

Tausende Leute zusammengebracht<br />

und Millionen rausgeschleudert, um<br />

ein „finales Leitbild“ zu finden. Im<br />

Mittelalter zum Beispiel. Mitten in einem<br />

Sumpfgebiet wuchsen zwei<br />

kleine Kaufmannstädte, Berlin und<br />

Cölln, umgeben vomsandigen Brandenburg.<br />

Wie hätte der Spruch wohl<br />

gelautet? Wahrscheinlich: „Berlin –<br />

Hauptsache, jenuch Streusand!“ Sofortwären<br />

die Bürger der benachbarten<br />

Stadt Cölln angerannt gekommen<br />

und hätten gebrüllt: „Und wir? Uns<br />

wollta wohl vajessen, ihr doofen <strong>Berliner</strong>?Wirbrauchen<br />

ooch Sand!“<br />

Gut, berlinertwurde damals noch<br />

nicht. Aber egal. Irgendwo muss sich<br />

der Geist dieser Stadt ja konzentrieren.<br />

Ich sehe ihn eben im Berlinischen,<br />

vor allem der Sprache, die die<br />

Vergangenheit dieser Stadt mit dem<br />

Heutigen verbindet. Wie hätte wohl<br />

der Slogan unter dem Alten Fritzen<br />

im 18. Jahrhundertgelautet? „Berlin –<br />

jeder nach seiner Fasson. Aber hallo!“<br />

Oder 1806, als Napoleon Preußen niedergeworfen<br />

hatte: „Berlin –wer hinfällt,<br />

muss ooch wieder uffstehn.“<br />

Oder in der durchmilitarisierten Kaiserzeit:<br />

„Berlin –ummpta, ummpta,<br />

täteräää. Loof mit!“ Das katastrophale<br />

Auf und Ab der ersten Hälfte<br />

des 20. Jahrhunderts lässt sich nur mit<br />

dem Spruch zusammenfassen: „Berlin<br />

–himmelhoch jauchzend, am Boden<br />

zerstört.“<br />

Unddann gab’s irgendwann gleich<br />

zwei Berlins. Schizophrenie! Ein gemeinsamer<br />

Slogan? Unmöglich! Und<br />

wenn, dann hätte er nur lauten können:<br />

„Berlin –doppelt hält bessa!“ Im<br />

Westteil der Stadt hätte man nach<br />

dem Stil der jüngsten Be-Berlin-Kampagne<br />

vielleicht gedichtet: „Sei Rosine,sei<br />

Bomber,sei Berlin.“<br />

Dem <strong>Berliner</strong> Geist, wie ich ihn<br />

empfinde,widerstrebt jeder kampagnenhafte<br />

Slogan. Undwenn es doch<br />

sein muss,weil man in dieser Stadt zu<br />

viel Zeit und Geld hat, dann bitte<br />

kurz. Alles andere läuft hinaus in ein<br />

Wischiwaschi-Gedöns. Und das ist<br />

unberlinisch. Im Grunde kann es<br />

überhaupt keinen Spruch für alle geben.<br />

Höchstens den, den ein Kollege<br />

vorschlug: „Dit is Berlin!“ Stimmt. Da<br />

findet sich jeder wieder. Dafür<br />

braucht’s aber keine Kampagne.<br />

Ichselbst, der in dieser Stadt lebt,<br />

habe für jeden Tag einen anderen<br />

Berlin-Slogan –jenach Erlebnissen<br />

und Stimmung. Hier eine kleine<br />

Sammlung: „Berlin – schon okay“,<br />

„Berlin –ach Jottchen“, „Berlin –jut<br />

so“, „Berlin –dumeine Fresse!“, „Berlin<br />

–fuck, fuck, fuck“, „Berlin –wird<br />

schon“, „Berlin –ooch ejal“. Wählt<br />

doch einfach was aus.<br />

Zum Weiterlesen: Torsten Harmsen: Neulichin<br />

Berlin –Kurioses aus dem Hauptstadt-Kaff,<br />

be.bra verlag,Berlin 2018, 14 Euro,224 Seiten.<br />

1987 hat sich der 1. Mai in Kreuzbergseinen unrühmlichen Ruf<br />

als Tagder Gewalt erwoben. Seittdem ist viel passiert<br />

Traditionell ist der 1. Maider<br />

„Kampftag der Arbeiterklasse“.<br />

Es geht gegen Kapitalismus<br />

und Ausbeutung.<br />

Jahrelang wurde dieser Kampf<br />

politisch geführt, dann allerdings<br />

entdeckte die gewaltbereite linksextreme<br />

Szene den Tag für sich. Die<br />

Folge waren Schlachten mit der Polizei,<br />

brennende Autos und immense<br />

Schäden.<br />

So war es auch 1987 –imdem<br />

Jahr,dem der 1. MaiinKreuzbergseinen<br />

spektakulär-zweifelhaften Ruf<br />

verdankt. Die Gewalt explodiert, als<br />

am Rande eines Familienfestes<br />

Steine auf Polizeiautos fliegen. Mit<br />

unverhältnismäßiger Gewalt stürmt<br />

die Polizei daraufhin das Fest, und<br />

wird vollkommen überrascht von<br />

der Gegenwehr etlicher Autonomer,<br />

die Kreuzberg in ein Straßenschlachtfeld<br />

verwandeln. Autonome<br />

aber auch Anwohner plündernunter<br />

anderem einen Bolle-Markt an der<br />

Skalitzer, Ecke Wiener Straße, später<br />

geht das Geschäft in Flammen auf.<br />

Sei diesem Tagsind die Maikrawalle<br />

eine unrühmliche Kreuzberger Tradition<br />

–mit mal mehr und mal weniger<br />

starken Verwüstungen.<br />

„Der Himmel schwarzvor Steinen“<br />

VonAndreas Kopietz<br />

Schwarzer Block: Die „Revolutionäre 1. Mai-Demo“ gehörtseit Jahrzehnten zum 1. Mai in Kreuzberg.<br />

Bolle ausgebrannt: Am 1. Mai 1987 wird die Filiale in Kreuzberg erst geplündert, dann geht sie in Flammen auf.<br />

Posen vor den Flammen: Manche Demo-Teilnehmer nutzen<br />

die Maikrawalle für Showtänze vor den Kameras. BLZ/WÄCHTER<br />

In den 90er-Jahren verlagert sich die<br />

Mai-Randale nach Prenzlauer Berg.<br />

Hinzu kommen Krawalle am Vorabend,<br />

der Walpurgisnacht, auf dem<br />

Kollwitzplatz, im Mauerparkund auf<br />

dem Boxhagener Platz in Friedrichshain.<br />

Im Jahr 2000 bekommen die Auseinandersetzungen<br />

neuen Schub:<br />

Als die „Revolutionäre 1. Mai-Demonstration“<br />

am Oranienplatz endete,<br />

rennt die Demo-Spitze plötzlich<br />

auf die Polizeieinheiten zu und<br />

deckt diese mit Kleinpflastersteinen<br />

ein. Derdamalige Landesschutzpolizeidirektor<br />

sagt am nächsten Tag:<br />

„Der Himmel war schwarz vor Steinen.“<br />

DiePolizei schlägt hartzurück,<br />

von einem Deeskalationskonzept<br />

keine Spur. Die Folge sind unzählige<br />

abgebrannte Autos, eingeschlagene<br />

Fenster und 226 verletzte Polizisten.<br />

Fast mehr alsimJahr zuvor.<br />

Im Jahr darauf verbietet der damalige<br />

CDU-Innensenator Eckart<br />

Werthebach die für 18 Uhr angesetzte<br />

„Revolutionäre 1.-Mai-<br />

Demo“. Auch das bringt nichts. Im<br />

Kiez vonSO36drängen sich Massen<br />

von Schaulustigen und Krawalltouristen,die<br />

darauf warten, dass es losgeht.<br />

Am Mariannenplatz kommt es<br />

zum Gewaltausbruch, als vermummte<br />

Randalierer einen Steinhagel<br />

auf eine Polizeikette niedergehen<br />

lassen. Hunderte schwarzgekleidete<br />

Autonome stürmen in die Muskauer<br />

Straße auf eine Phalanx von Plastikschilden<br />

zu und attackieren die Polizei.<br />

Es kommt zu chaotischen Szenen:<br />

Polizisten stürmen das Familienfest,<br />

Eltern mit Kinderwagen stolpern<br />

durch Büsche, aus Furcht vor<br />

Knüppel schwingenden Polizisten.<br />

Ein hektischer Beamter am Lenkrad<br />

versucht, seinen Wasserwerfer die<br />

Treppe am Mariannenplatz hinauf<br />

zufahren, und bleibt mit dem 26,3<br />

Tonnen schweren Fahrzeug hängen.<br />

DiePolizei ist heillos überfordert. Im<br />

gesamten Kiez brennen Autos und<br />

Dixie-Toiletten. Und überall stehen<br />

Neugierige herum, die sich freuen,<br />

dass mal was los ist. Politik ist den<br />

meisten vonihnen egal.<br />

IMAGO<br />

Drängelnd durch den Kiez: Das Myfest rund um die Oranienstraße<br />

bildet den friedlichen Gegenpol.<br />

BLZ/PONIZAK<br />

Mehr als 600 Menschen werden<br />

am 1. Mai 2001 festgenommen, darunter<br />

viele, die den Platz nur nicht<br />

rechtzeitig verlassen konnten. 170<br />

Polizisten sind verletzt. Später sprechen<br />

die „Revolutionäre“ von einem<br />

großen politischen Erfolg, wie auch<br />

in den Jahren zuvor, als man es den<br />

„Bütteln des Systems“ gezeigt habe.<br />

Schon damals sprachen Politiker<br />

und immer mehr Kreuzberger von<br />

BLZ/PAULUS PONIZAK<br />

einem „sinnentleerten Gewaltritual“.<br />

Es wird ein bisschen demonstriert,<br />

es gibt Bier und Bratwurst,<br />

Steine und Bierflaschen fliegen auf<br />

Polizisten. Und esgibt jede Menge<br />

Touristen, die extra anreisen, um zu<br />

gucken.<br />

Vor diesem Hintergrund wurde<br />

im Jahr 2002 derSamen für das spätere<br />

MyFest gelegt. Das Bündnis<br />

„Denk Maineu“ um den FU-Professor<br />

Peter Grottian hatte sich in den<br />

Kopf gesetzt, den 1. Mai inKreuzbergzu„repolitisieren“.<br />

EinKiezfest<br />

mit Diskussionsbühnen sollte Randalierern<br />

den Raum nehmen. Im<br />

Gegenzug sollte sich die Polizei aus<br />

Kreuzberg heraushalten. Die Idee<br />

scheiterte grandios.<br />

Grottian wurde von Autonomen<br />

angegangen, eine Diskussionsveranstaltung<br />

im Vorfeld endete in<br />

Schreierei und Chaos,und Innensenator<br />

Erhart Körting (SPD) wollte<br />

die Polizei nicht aus dem Kiez raushalten<br />

–wenngleich er es mit etwas<br />

Deeskalation und dem Konzept der<br />

„ausgestreckten Hand“ versuchte.<br />

Die Polizei verzichtete auf allzu<br />

sichtbare Präsenz. Genau deshalb<br />

konnten Randalierer am Oranienplatz<br />

in aller Ruhe einen Plus-Markt<br />

plündern. In diesem Jahr wurde in<br />

der linken Szene der Begriff der<br />

„Maifestspiele“ geboren.<br />

Idee zur Repolitisierung<br />

Waren imVorjahr die Krawalle nur<br />

auf den Mariannenplatz begrenzt,<br />

konstatierte der Einsatzleiter der<br />

Polizei 2002 einen „Flächenbrand“.<br />

In ganz SO 36 standen Autos in<br />

Flammen. Die inzwischen oppositionelle<br />

CDU und die Polizeigewerkschaften<br />

kritisierten die Polizeistrategie;<br />

die rot-rote Koalition<br />

sowie FDP und Grüne verteidigten<br />

sie. Immerhin wurden dieses Mal<br />

„nur“ 100 Polizisten verletzt. Dieses<br />

Mal–und das machte Innensenator<br />

Körting besondere Sorge – waren<br />

auch viele erlebnisorientierte türkisch-<br />

und arabischstämmige Jugendliche<br />

unter den Randalierern.<br />

Gleichwohl waren Polizei und Regierungspolitiker<br />

nicht unzufrieden<br />

mit dem Gesamtverlauf des Tages.<br />

2003 griffen Bezirkspolitiker, Gewerbetreibende<br />

und Anwohner die<br />

Idee eines politischen Kiezfestes<br />

auf. Rockkonzerte sollte es am 1.<br />

Mai in Kreuzberg geben, Straßentheater<br />

und Kleinkunst. Überall in<br />

SO 36 sollten Bühnen stehen und<br />

keinen Raum lassen für Randalierer.<br />

Es sollte eine Initiative von unten

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