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20 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 97 · 2 7./28. April 2019<br />
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Berlin bewegt sich<br />
Roy Black<br />
fürs<br />
Comeback<br />
Rudern erfordert Kraft,<br />
Ausdauer und viel Geschick.<br />
Ein realistisches Selbstbild schadet<br />
ebenfalls nicht<br />
VonChristian Schwager<br />
Das Trikot aus den Achtzigernpasst, der Ruderstil noch nicht ganz: unser Autor in einem Skiff des Friedrichshagener RV auf der Müggelspree.<br />
THOMAS UHLEMANN<br />
Ein Lied, okay,aber welches?<br />
Maike Michalski beugt sich<br />
über das Steuer des Begleitbootes<br />
und versucht, den<br />
Außenbordmotor zu übertönen: „Irgendeins“,<br />
ruft die Trainerin,<br />
„schließ die Augen und sing in Gedanken.“<br />
Aha.„Onthe rivers of Babylon“?<br />
Nein, nicht Boney M. Außerdem<br />
ist das hier Friedrichshagen, die<br />
Müggelspree, nicht der Euphrat in<br />
Vorderasien. „Take me back to my<br />
boat on the river“? Zu getragen, der<br />
Song von Styx, obwohl er zu einer<br />
Rückkehr ins Skiff passt. „Row, row,<br />
row your boat gently down the<br />
stream“? Ein Kinderlied? Die Skulls<br />
flutschen aus demWasser.Maike Michalski<br />
ruft: „Das war schlecht!“ Augen<br />
zu, nicht nachdenken. „Das war<br />
wieder schlecht!“ Singen, singen,<br />
singen. „Ja! Gut!“ Na bitte, jetzt läuft<br />
der Einer.„Row, row, rowyour boat.“<br />
Zu den größten Fehlern, die einem<br />
Hobbysportler unterlaufen<br />
können, zählt die Selbstüberschätzung.<br />
An diesem Nachmittag beim<br />
Friedrichshagener Ruderverein<br />
habe ich ihn begangen, sehenden<br />
Auges.Ich hatte Maike Michalski davon<br />
überzeugen können, dass ich<br />
früher Rudernals Leistungssportbetrieben<br />
habe. Die Trainerin wies mir<br />
daher gleich ein schnittiges Skiff zu,<br />
keinen plumpen Übungs-Einer.<br />
Nur halbherzig hatte ich allerdings<br />
erwähnt, dass meine letzte Regatta<br />
36 Jahre zurückliegt: die Deutsche<br />
Meisterschaft auf dem Maschsee<br />
in Hannover, die Eichkranz-Regatta.<br />
Das klingt nach Eichenlaub<br />
mit Schwertern und steht deshalb<br />
heutzutage wohl nur noch diskret in<br />
Klammern, wenn überhaupt. Uns<br />
Männer B störte der Titel damals<br />
nicht. Das Bbezog sich aufs Alter,<br />
nicht auf die politische Zurechnungsfähigkeit.<br />
Bei Männer Bwird mich Maike<br />
Michalski gleich zu Beginn unseres<br />
Nachmittags in Friedrichshagen eingestuft<br />
haben, leistungsmäßig,<br />
höchstens. Ihr Trainerauge lässt sich<br />
von vorgetäuschter Souveränität<br />
nicht blenden. „Skulls in die Dollen<br />
einlegen, den Haltebügel zuschrauben.“<br />
Kein Problem. „So, jetzt den<br />
rechten Fuß vor den Rollsitz und<br />
hinsetzen.“ Klar, vor den Rollsitz.<br />
Schon geht es ein Stück hinaus auf<br />
die Müggelspree.„Die Hände locker<br />
auf die Griffe, Daumen auf die Enden,<br />
Blätter flach aufs Wasser.“ Ja,ja.<br />
Gefährlich nah am Wasser<br />
Einleichter Wind kräuselt den Fluss.<br />
Drüben am anderen Ufer rauschen<br />
die Bäume. Ein Wanderboot zieht<br />
vorbei, vier Senioren nicken freundlich,<br />
die Steuerfrau winkt. Ruderer<br />
sind entspannte Leute, mal abgesehen<br />
von mir in diesem Augenblick.<br />
„Jetzt die Griffe bewegen. Backbord<br />
hoch, Steuerbord runter und umgekehrt“,<br />
sagt Maike Michalski, als das<br />
Boot noch am Steg liegt. „Keine<br />
Angst, ich halte Dich fest.“ Angst?<br />
Wann darfich denn endlich mal losrudern?<br />
„Langsam, langsam.“ Das<br />
Boot neigt sich zur Seite,ein Ausleger<br />
taucht schon ab.<br />
So ein Skiff ist an der Wasserlinie<br />
knapp 30 Zentimeter breit und tückisch,<br />
wenn man sich für Robert<br />
Manson hält; der Neuseeländer hat<br />
2017 über die Renndistanz von<br />
Ruder-Tugend: Bei 51 Rudervereinen<br />
in Berlin fällt die<br />
Wahl schwer.Auf seiner<br />
Homepagehilft der Landesruderverband.<br />
Dortist unter<br />
anderem ein Lageplan mit<br />
Kontakten zu finden. Mehr<br />
Infos: lrvberlin.de<br />
2000 Metern die aktuelle Weltbestzeit<br />
errudert. 7:07,71 Minuten benötigte<br />
er.Indieser Zeit habe ich ungefähr<br />
zwei Meter zurückgelegt. Maike<br />
Michalski ist zum Motorboot gelaufen.<br />
Vorher hat sie mir noch eingeschärft:<br />
„Nichts machen, bis ich da<br />
bin.“ Ichhabe Wechselsachen dabei,<br />
warum also nicht mal was riskieren?<br />
DER START<br />
Ruder-Jugend: Die meisten<br />
Vereine der Stadt bieten<br />
Schnupperkurse für Kinder<br />
an. Die Ruderjugend ist<br />
ebenfalls über den Landesverband<br />
(LRV) zu erreichen,<br />
telefonisch unter der Nummer<br />
030/30 64 00 00.<br />
Ruder-Stützpunkte: Der<br />
Schülerruderverband Berlin<br />
unterhält Stützpunkte in<br />
Grünau, Wannsee, Mitte,<br />
Spandau, Reinickendorf und<br />
Charlottenburg.Kontakt:<br />
Info@srv-berlin.de oder<br />
030/34 33 39 00.<br />
Im anaeroben Bereich: Christian Schwager 1982 auf dem Trainingsrevier in Wesel. PRIVAT<br />
Icharbeite mit den Skulls,tauche die<br />
Blätter ins Wasser, ziehe, das Boot<br />
gleitet los.Esfühlt sich gut an.<br />
Auf dem Sattelplatz vor dem<br />
Bootshaus bereiten sich einige Ruderer<br />
auf ihre Ausfahrt vor. Ich bilde<br />
mir ein, dass sie lächeln. Belustigt?<br />
Sicher freundlich. Ich versuche, ein<br />
optimistisches Gesicht zu machen.<br />
Zwei Skiffs rauschen vorbei. Tja, so<br />
sollte es aussehen, na ja. Der Wandervierer<br />
verschwindet gemächlich<br />
hinter einer Kurve.<br />
DieWahrscheinlichkeit, auf <strong>Berliner</strong><br />
Gewässerneinem Ruderer zu begegnen,<br />
ist hoch. 51 Vereine hat der<br />
Landesverband registriert. Rund<br />
10 000 Mitglieder haben sie insgesamt.<br />
Hätte mir Maike Michalski<br />
schon vorher den Tipp mit dem Singen<br />
gegeben, ich könnte mich jetzt<br />
an Roy Black orientieren: „Du bist<br />
nicht allein.“<br />
Aufdrehen, eintauchen<br />
Die Trainerin fährt im Motorboot<br />
längsseits.„So, jetzt halbe Rollbahn“,<br />
ruft sie. Während ich nach vorn rutsche,fällt<br />
mir die Faustregel für einen<br />
Rennstartein: „Dreiviertel, halb,halb,<br />
dreiviertel, lang.“ Sauerstoffschuld,<br />
dieses Wort geht mir durch den Kopf,<br />
und ich erinneremich daran, was sie<br />
mit einem auf 2000 Metern macht.<br />
Sie macht einen fix und fertig. Jetzt<br />
auf der Müggelspree ist alles im aeroben<br />
Bereich und ein Puls von<br />
200 Schlägen pro Minute jenseits allerVorstellungskraft.<br />
„Die Blätter flach übers Wasser<br />
gleiten lassen“, ruft Maike Michalski.<br />
Na gut, hier ist ja niemand, der mich<br />
von früher kennen, der mich peinlich<br />
finden könnte. Die Blätter pladdern<br />
über die Wellen. Nach vorne<br />
rollen, halbe Länge, volle Länge.<br />
Blätter aufdrehen, eintauchen,<br />
durchziehen. Oberkörper in Rücklage,<br />
Hände ran andie Rippen. Blätter<br />
raus aus demWasser,drehen, und<br />
wieder nach vorn mit dem Rollsitz.<br />
„Das war schlecht“, ruft Maike Michalski,<br />
aber das merke ich inzwischen<br />
selbst. „Nicht nachdenken.<br />
Schließ die Augen, sing ein Lied.“<br />
Mit geschlossenen Augen sehe<br />
ich zwar das malerische Ufer nicht<br />
mehr, dafür spüre ich etwas in meinem<br />
Körper immer deutlicher. Es<br />
muss sich um meine Bauchmuskulatur<br />
handeln. Mehr als 80 Prozent<br />
der menschlichen Muskeln werden<br />
beim Rudern aktiviert, und das sind<br />
nach meinem bescheidenen Dafürhalten<br />
in diesem Augenblick eine<br />
ganze Menge.„Augen wieder schließen“,<br />
ruft Maike Michalski. Meinetwegen.<br />
„Row, row, row your boat.“<br />
Dass ich auf die Böschung zufahre,<br />
bemerke ich zwar nicht, aber es ist<br />
mir auch egal. Das Sehen hat<br />
schließlich die Trainerin übernommen,<br />
wie sie mich wissen lässt.<br />
„Steuerbord stärker ziehen!“ Steuerbord,<br />
Moment: vom Heck zum Bug<br />
gesehen rechts.„Gut so, jetzt wieder<br />
gleichmäßig. Undsingen.“<br />
Zwei Kilometer sind wir unterwegs.<br />
Richtung Köpenicker Altstadt,<br />
dann zurück Richtung Müggelsee.<br />
Nach drei Kilometernhöreich auf zu<br />
singen und fange an zu rudern. Wie<br />
früher.Soungefähr jedenfalls.Maike<br />
Michalski ist schon vorgefahren zum<br />
Bootshaus. Ein gutes Zeichen, finde<br />
ich. Die Wechselsachen werde ich<br />
wohl nicht mehr brauchen.<br />
Am Abend, zu Hause auf dem<br />
Sofa, lese ich mir den Aufnahme-Antrag<br />
für den Friedrichshagener Ruderverein<br />
durch. Eine Rubrik fehlt:<br />
Lieblingslied. Ich werde Maike Michalski<br />
beim nächsten Mal darauf<br />
ansprechen. Die Rubrik gehört unbedingt<br />
aufs Formular.<br />
Die Ausrüstung<br />
Skulls<br />
Riemen<br />
Bootsklassen<br />
Fahrtrichtung<br />
Stemmbrett<br />
Einer<br />
(Skull)<br />
Skull<br />
Dollen<br />
Ausleger<br />
Blätter<br />
Skulls werden beim Rudern paarweise<br />
benutzt. DenVortrieb im Wasser<br />
erzeugt das Blatt. Es gibt zwei<br />
Grundformen: Das Mâcon-Blatt ist<br />
symmetrisch geschwungen, das gesamte<br />
Skull 294 bis 302 Zentimeter<br />
lang. Big Blade nennt sich die Blattform,<br />
die an ein Hackebeil erinnert,<br />
das Skull ist etwas kürzer. Traditionell<br />
waren Skulls aus Fichte gefertigt.<br />
Heutzutage werden kohlefaserverstärkte<br />
Kunststoffe verwendet. Beim<br />
Rudernmit Skulls befinden sich zwei<br />
Ausleger am Bootsrumpf. Am Ende<br />
des Auslegers ist eine dreh- und verschließbare<br />
Dolle aufgesetzt. Da in<br />
Deutschland üblicherweise die<br />
rechte Hand unter der linken geführt<br />
wird, sind die Ausleger minimal unterschiedlich<br />
hoch montiert. Rollt<br />
der Ruderer auf seinem Sitz nach<br />
vorn, gehen die Arme auseinander.<br />
In der Rückwärtsbewegung kommt<br />
die rechte Hand näher zum Oberkörper<br />
als die linke. (cs.)<br />
Fahrtrichtung<br />
Zweier<br />
(Riemen)<br />
Beim Ruderen mit Riemen bewegt<br />
jeder Athlet ein Blatt durchs Wasser,<br />
beide Hände liegen auf einem Griff.<br />
DerOberkörper wirdzur Seite,Richtung<br />
Ausleger gedreht. Da es pro<br />
Mann nur ein „Ruder“ gibt, gibt es<br />
nur einen Ausleger pro Mann. Abwechselnd<br />
sind die Ausleger in<br />
Fahrtrichtung links (Backbord) und<br />
rechts (Steuerbord) angebracht, geriggert.<br />
Auch die Kombination Backbord,<br />
Steuerbord, Steuerbord, Backbordist<br />
möglich. Riemen-Rudernist<br />
nur mit einer geraden Zahl von Ruderern<br />
möglich, da sich das Boot<br />
sonst im Kreis drehen würde.<br />
Die Grundausstattung entspricht<br />
der eines Skull-Boots.Auf einem Rollsitz<br />
bewegt sich der Ruderer vor- und<br />
rückwärts. Seine Füße stecken in<br />
Schuhen, die ans Stemmbrett montiert<br />
sind. Riemen sind 378 Zentimeter<br />
lang und haben ein größeres Blatt<br />
als Skulls.Wie Skulls sind sie auf Manschetten<br />
in der Dolle gelagert. (cs.)<br />
Fahrtrichtung<br />
Zweier mit<br />
(Riemen)<br />
BLZ/SABINE HECHER (3)<br />
Neben dem Einer gibt es im Rennrudern<br />
Boote mit zwei, vier und acht<br />
Ruderern. „Doppel“, etwa bei Doppelzweier,<br />
signalisiert, dass es sich<br />
um ein Skullboot handelt. Der Zusatz<br />
„mit“ bedeutet, ein Steuermann<br />
ist an Bord. Doppelzweier sind<br />
grundsätzlich ungesteuert, der Achter<br />
grundsätzlich gesteuert. Nicht<br />
alle Bootsklassen sind olympisch. So<br />
wurde der Zweier mit –wegen seiner<br />
Langsamkeit auch Kohlenkahn genannt<br />
–und der Vierer mit aus dem<br />
Programm genommen. Dafür wurden<br />
bei den Sommerspielen 1996 in<br />
Atlanta Leichtgewichte in drei Bootsklassen<br />
in die olympische Regatta integriert.<br />
KleinereNationen, in Bezug<br />
auf Anzahl und Größe der Athleten,<br />
sollten so eine Chance bekommen.<br />
Die Rechnung ging nicht auf, klassische<br />
Rudernationen dominieren<br />
auch die Leichtgewichte –Maximalgewicht<br />
72,5 Kilogramm bei Männern,<br />
bei Frauen 59 Kilogramm. (cs.)