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2 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 97 · 2 7./28. April 2019<br />
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Report<br />
Tödliche<br />
Wurstzipfel<br />
BERLINER ZEITUNG/SABINE HECHER<br />
Die tödliche Gefahr ist<br />
nicht zu erkennen, aber<br />
sie kann überall sein auf<br />
diesem Parkplatz. Es ist ein<br />
klassischer Montagmorgen im Frühling an<br />
der Autobahn A2, Kilometer 21, kurz hinter<br />
der Abfahrt Brandenburg/Havel. Der Parkplatz<br />
namens Wendgräben bietet Platz für 40<br />
große Lastwagen. Er ist rappelvoll. Diemeisten<br />
vonihnen haben Kennzeichen aus Polen,<br />
aus Litauen, Russland oder der Ukraine.<br />
Sie sind unterwegs nach Westen, doch<br />
wegen des Sonntagsfahrverbotes haben die<br />
Fahrer ihr Wochenende auf diesem zugigen<br />
Betonplatz mit dem WC-Häuschen verbracht.<br />
Siehaben in den Lastwagen geschlafen,<br />
haben auf Gaskochern ihr Essen bereitet,<br />
sich gelangweilt, stundenlang aufs<br />
Handy gestarrt und meist auch ihre Fahrerkabinen<br />
aufgeräumt –und sie haben viel Abfall<br />
hinterlassen. Wirklich sehr viel Abfall.<br />
Am Montagmorgen sieht der Parkplatz<br />
Wendgräben aus wie ein Müllplatz. Bereits<br />
mitten auf der Auffahrt liegt ein Haufen Unrat,<br />
der schon völlig platt gefahren ist. Insgesamt<br />
stehen 30 große Müllbehälter bereit,<br />
brusthoch und leuchtgelb lackiert. „Weil wir<br />
wissen, was jedes Wochenende hier los ist,<br />
hängen wir freitags immer noch extra anjeden<br />
Behälter einen großen blauen Müllsack“,<br />
sagt Carsten Gericke, der an diesem<br />
Morgen mit zwei Kollegen den Parkplatz aufräumt.<br />
Die Müllmänner von der Autobahnmeisterei<br />
haben viel zu tun, denn rund um<br />
jeden gelben Behälter liegen beachtliche Abfallberge,die<br />
sie nun akribisch beseitigen.<br />
„Ebola für Schweine“<br />
Denn genau in diesem Müll lauertpotenziell<br />
die Gefahr: die Afrikanische Schweinepest,<br />
abgekürzt ASP. Dass die Tierkrankheit mit<br />
dem Zusatz „Pest“ versehen wurde, zeigt,<br />
dass sie auch von Experten sehr ernst genommen<br />
wird. Diese Krankheit ist zwar für<br />
Menschen ungefährlich, selbst wenn sie<br />
kontaminiertes Fleisch essen, aber für Hausund<br />
Wildschweine ist die Krankheit tödlich.<br />
Um zu beschreiben, wie hoch die Ansteckungsgefahr<br />
ist, wird oft auch die Bezeichnung<br />
„Ebola für Schweine“ benutzt.<br />
Experten gehen davon aus, dass es wohl<br />
nur eine Frage der Zeit ist, bis die Krankheit<br />
auch Deutschland erreicht. Befürchtet wird,<br />
dass Fernfahrer oder Touristen aus Osteuropa<br />
an den vielen deutschen Autobahnen<br />
Die Afrikanische<br />
Schweinepest grassiert<br />
in Osteuropa. Bald schon<br />
wird die Tierseuche<br />
wohl Deutschland<br />
erreichen –mit<br />
verheerenden Folgen<br />
für die heimische<br />
Wirtschaft.<br />
Brandenburg rüstet sich<br />
für den Ernstfall<br />
VonJens Blankennagel,<br />
Schöbendorf<br />
achtlos irgendwelche<br />
Essensreste wegwerfen,<br />
in denen sich Fleisch befindet,<br />
das mit dem Virusinfiziertist. In Osteuropa<br />
sind nicht durchgegarte Produkte<br />
von Wildschweinen sehr beliebt. In Salami<br />
oder in rohem Schinken überlebt die Krankheit<br />
einige Monate.<br />
So besteht die Gefahr,dass sich ein heimischesWildschwein<br />
an der Autobahn am Müll<br />
gütlich tut, dabei einen kontaminierten<br />
Wurstzipfel frisst, sich infiziert und später<br />
andereWildschweine ansteckt.<br />
Damit dies nicht passiert, ist Carsten Gericke<br />
an diesem Montag seit 6.30 Uhrmit seinen<br />
Kollegen unterwegs. Sie räumen allen<br />
Müll weg anihrem Abschnitt der A2. Als der<br />
55-Jährige den übervollen blauen Sack aus<br />
dem ersten Müllbehälter nimmt, schüttelt er<br />
den Kopf und sagt: „Das sieht wieder extrem<br />
aus. Nach den Wochenenden ist es immer<br />
besonders viel Müll.“<br />
Dann erzählt er, dass dies aber noch<br />
längst nicht der Höhepunkt ist, denn derzeit<br />
sind die Abfallhaufen nur kniehoch. „Im<br />
Sommer stapelt sich der Müll oft so hoch,<br />
dass die Tonnen darunter nicht mehr zu erkennen<br />
sind“, sagt der Mann, der mit seinen<br />
Kollegen nun eine volle Stunde benötigen<br />
wird, bis der Parkplatz wieder sauber ist.„Ein<br />
undankbarer Job“, sagt er. „In drei Stunden<br />
liegt wieder überall Dreck rum.“<br />
Undjeder weggeworfene Salamizipfel, jedes<br />
angebissene Wurstbrötchen könnte den<br />
Super-GAU auslösen –das größte anzunehmende<br />
Unglück für einen der Pfeiler der<br />
deutschen Lebensmittelwirtschaft: für die<br />
Fleisch- und Wurstindustrie, besser gesagt,<br />
für die Schweinebranche. Denn Deutschland<br />
ist Schweineland: Mehr als 27 Millionen<br />
dieser Nutztiere werden hier gehalten –so<br />
viele wie nirgends sonst in der EU.<br />
Im Ernstfall würden die Behörden große<br />
Sperrkreise um den Fundort des infizierten<br />
Schweines errichten und auch Notschlachtungen<br />
anordnen<br />
müssen –mit dramatischen<br />
wirtschaftlichen<br />
Folgen. Denn die meisten Staaten<br />
würde dann wohl darauf verzichten, deutsches<br />
Schweinefleisch zu importieren.<br />
Undweil das so ist, geht seit Jahren nicht<br />
nur in dieser Branche die Angst um. Die<br />
Schweinepest wurde 2007 per Schiff von<br />
Afrika nach Georgien eingeschleppt. Seither<br />
wandert sie durch Osteuropa und erreichte<br />
2014 das Baltikum und Ostpolen.<br />
In der Natur wirddie Krankheit vonWildschwein<br />
zu Wildschwein übertragen und<br />
breitet sich nur langsam aus. Doch das<br />
Hauptproblem ist mal wieder der Mensch.<br />
Manchmal tritt die Krankheit schlagartig in<br />
einer Region auf, die Hunderte Kilometer<br />
entfernt ist vom nächsten betroffenen Gebiet.<br />
Für diese Sprünge sorgen meist Fernfahrer,<br />
die mit ihren Lastwagen von Russland,<br />
vom Baltikum und von Polen aus einmal<br />
quer durch Deutschland nach Westeuropa<br />
fahren und infizierte Lebensmittel als<br />
Proviant dabeihaben.<br />
Autobahnen sind in Deutschland so etwas<br />
wie die Lebensadern, zwei Drittel aller<br />
Waren, die importiertwerden, kommen über<br />
diese Straßen ins Land. Undindiesem dichten<br />
Netz ist die A2 so etwas wie die Strecke<br />
mit dem größten ASP-Risiko.<br />
Sie beginnt am <strong>Berliner</strong> Ring und endet<br />
473 Kilometer später in Oberhausen im<br />
Ruhrgebiet. Es ist die wichtigste Ost-West-<br />
Transit-Route der Bundesrepublik, auf der<br />
jeden Tagviele Zehntausende Fahrzeuge unterwegs<br />
sind. Weil hier gefühlt etwa zwei<br />
Drittel der Lastwagen polnische Kennzeichen<br />
haben, wird die A2 von vielen auch<br />
„Warschauer Allee“ genannt.<br />
Carsten Gericke geht in die Hocke und<br />
schiebt all den Müll, der unter einem der 30<br />
knallgelben Kübel liegt, in einen neuen<br />
blauen Sack: eine leere Flasche Wyborowa,<br />
also Wodka aus Polen, leereSprite-Flaschen,<br />
zerknüllte Taschentücher,<br />
platte Zigarettenschachteln, trockene<br />
Salamipelle,Tüten des russischen<br />
Lebensmittelhändlers Wikuswill<br />
mit vertrocknetem Brot und Essensresten<br />
aller Art, eine Suppendose und eine<br />
fast leere Packung „Parówki zFileta zKurczaka“<br />
–polnischeWürstchen mit Hähnchenfilet.<br />
Als der Sack voll ist, wirft Gericke ihn auf<br />
die Ladefläche des Transporters und geht zur<br />
nächsten gelben Tonne.<br />
Das Auto von Tino Fiedler rollt auf den<br />
Parkplatz. Der Chef der Autobahnmeisterei<br />
Werder koordiniert die Arbeit von 34Leuten<br />
– und nach jedem Wochenende ist deren<br />
Hauptaufgabe das große Aufräumen. An diesem<br />
Tagist Fiedler unterwegs,uminseinem<br />
Revier mal wieder zu kontrollieren, ob noch<br />
alle Zäune in Ordnung sind und ob Mülltonnen<br />
ersetzt werden müssen. „Noch ist die<br />
Schweinepest nicht da“, sagt der 34-Jährige<br />
und streckt den Rücken.„Und wir sagen ganz<br />
stolz: Dasliegt auch an uns.“<br />
DenRest erledigt der Wind<br />
Doch Fiedler weiß, dass der Kampf nicht<br />
leichter wird. Denn die Unvernunft scheint<br />
grenzenlos. Zwar stehen an jeder Parkplatzauffahrt<br />
und jeder Autobahntoilette große<br />
Warnschilder,die in Deutsch, Polnisch, Russisch,<br />
Englisch, Französisch und Polnisch<br />
über die Tierseuche aufklären und auffordern:„Bitte<br />
werfen SieSpeisereste nur in verschlossene<br />
Müllbehälter.“ Doch die Abfallberge<br />
zeugen vonIgnoranz.<br />
Undessind nicht nur die Truckfahrer,die<br />
für Ärger sorgen –sondernauch Tiere. So reißen<br />
Krähen liebend gern die zusätzlichen<br />
Müllsäcke an den Tonnen auf und suchen<br />
darin nach Leckereien. Den Rest erledigt<br />
dann der Wind. Überall auf den Wiesen des<br />
Parkplatzes liegt Unrat. Tino Fiedler erzählt,<br />
dass wegen der Schweinepest beim wöchentlichen<br />
Großputz immer extra ein dritter<br />
Mann dabei ist, der alle Wiesen absucht.<br />
Die Angst vor ASP ist groß, denn die<br />
Schäden sind enorm. Das zeigt sich in den<br />
bereits betroffenen Ländern. Die russische<br />
Regierung meldete zu Jahresbeginn, dass<br />
seit dem Ausbruch der Seuche im Jahr 2007<br />
etwa acht Millionen Schweine getötet wurden<br />
–Einbußen: umgerechnet 507 Millionen<br />
Euro. Auch in Japan wurde im April<br />
erstmals der Virus inimportierten Fleischprodukten<br />
aus China nachgewiesen. Nach