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Berliner Zeitung 27.04.2019

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AllerLast<br />

4 27./28. APRIL 2019<br />

Die beiden wichtigsten Orte meiner<br />

Kindheit waren Ludwigsfelde<br />

und Prerow. In Ludwigsfelde,<br />

die Ludwigsfelder sagen<br />

Lu, einer Automobilbauerstadt am südlichen<br />

<strong>Berliner</strong> Stadtrand, wuchs ich auf, ging<br />

in den Kindergarten und in die Schule. Die<br />

Kleinstadt war untrennbar mit dem W50 verbunden,<br />

einem Fünftonner, der heute noch<br />

im ganzen früheren Ostblock zu finden ist.<br />

Mitdem ersten, der 1965 vomFließband lief,<br />

bekam die proletarische Siedlung Ludwigsfelde<br />

überhaupt erst das Stadtrecht, und<br />

meinen Führerschein machte ich 1987 zwar<br />

in Berlin, aber natürlich auf einem W50.<br />

Mein Vater fuhr in einem Saporosch<br />

durch Ludwigsfelde. Eigentlich hieß der<br />

Kleinwagen Saporoschez, aber in der DDR<br />

sagte man Saporosch oder kurzSapo.Und jeden<br />

Sommer reisten wir in unserem Trabant<br />

an die Ostsee auf die Halbinsel Darß, um<br />

zwischen den Dünen am Meer am größten<br />

Nacktbadestrand der Welt zu zelten. Wenn<br />

Nebel war, leuchtete der Leuchtturm nicht<br />

nur, sondern esblökte auch das Nebelhorn.<br />

Es gab dort Erdkröten, Frösche und Schlangen,<br />

herrliche Tiere.<br />

Doch jetzt fahren mein <strong>Berliner</strong> Fußballfreund<br />

Dima und ich durch Uruguay, und<br />

nichts könnte ferner sein als diese beiden<br />

Orte.<br />

ES IST ZUM VERZWEIFELN. Ich habe den<br />

Auftrag, für die <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> über zwei<br />

Trabants zu berichten, die in Uruguay herumfahren,<br />

aber sie sind nicht zu finden.<br />

Woher weiß ich, dass es überhaupt Exemplare<br />

des ostdeutschen Kleinwagens in dem<br />

kleinen südamerikanischen Land gibt? Dasist<br />

das Schlimme: Ichweiß es nicht. Ichhatte es<br />

von Fernando in Montevideo erfahren. Ich<br />

war durch eine Straße in der Nähe der Altstadt<br />

gelaufen, als ich ein Motorengeräusch hörte,<br />

das ich aus meiner Kindheit kannte.Ein Saporosch!<br />

Hier in Montevideo! Undsoeiner fuhr<br />

an mir vorbei. Ich fotografierte ihn während<br />

der Fahrt und lief in die Richtung, in der das<br />

Auto verschwunden war.Dasah ich am Straßenrand<br />

einen westdeutschen DKW von ungefähr<br />

1950, den man getrost als Vorgänger<br />

des Trabant bezeichnen kann. Und ander<br />

nächsten Ecke stand der Saporosch, und Fernando<br />

stieg aus.Ich eilte zu ihm, und wir unterhielten<br />

uns über Autos. Fernando war ein<br />

Oldtimer-Sammler von ungefähr 60 Jahren<br />

mit einem Faible ausgerechnet für westdeutsche<br />

Kleinwagen.<br />

Es stellte sich heraus, dass es kein Saporosch<br />

war, sondern ein westdeutscher NSU<br />

Prinz. Der wiederum war das Vorbild für den<br />

sowjetischen Saporosch gewesen. Fernando<br />

hatte früher, erzählte er, zehn DKWs, inzwischen<br />

war nur der eine übrig geblieben, der<br />

eine Ecke weiter parkte.Und als ich vonmeiner<br />

Herkunft aus der DDR erzählte, sagte er<br />

mir,dass es in Uruguay zwei Trabants gebe.<br />

DieTrabants vonUruguay ließen mir keine<br />

Ruhe. War das nicht eine wahnsinnig spannende<br />

Geschichte,wie die Autos aus dem ostdeutschen<br />

Sozialismus ins kapitalistische<br />

Südamerika gekommen waren? Die <strong>Berliner</strong><br />

<strong>Zeitung</strong> war derselben Meinung, und ich<br />

fragte Fernando nach Details über die Trabants.Leider<br />

hatte er keine.Eswar acht Jahre<br />

her, dass er in der Stadt Punta del Este einen<br />

Kübeltrabant gesehen hatte, was mich erst<br />

richtig anfixte: Ichselber hatte fast 15 Jahreeinen<br />

Kübeltrabant besessen, die Armee-Version<br />

des Autos,eine ArtCabriolet ohne Türen,<br />

und war damit mit meinen Töchtern und<br />

Touristen durch Berlin gefahren.<br />

Dima und ich fahren trotz dieser längst<br />

verwehten Spur über 140 Kilometer entlang<br />

der Küste des Rio de la Plata, einem mehrere<br />

hundert Kilometer breiten schlammigen<br />

Fluss, indie Urlauberstadt nach Osten. Dort<br />

zeige ich das Foto eines Kübeltrabants Taxifahrern,<br />

Tankwarten, <strong>Zeitung</strong>shändlern, Betreibern<br />

eines Oldtimer-Museums, Bewohnern,<br />

insgesamt sicher 20 Menschen, und keiner<br />

vonihnen hat jemals ein solches Auto gesehen.<br />

Fast 300 Kilometer weit sind wir auf erfolgloser<br />

Odyssee. Die Geschichte über die Trabants<br />

vonUruguay muss ungeschrieben bleiben.<br />

Wir sind gescheitert. Wir verlassen die<br />

anscheinend nur aus hässlichen Hochhäusern<br />

bestehende Ortschaft und fahren durch<br />

Gischtwolken, die das Meer über die Straße<br />

treibt.<br />

Durchdie Pampa geht es zu einem Naturschutzgebiet,<br />

das als Hippie-Siedlung Cabo<br />

Polonio berühmt ist. Weiter war ich noch nie<br />

vonLudwigsfelde,Prerowund der Ostsee entfernt,<br />

und doch erinnertmich die Landschaft<br />

mit ihren Kiefernwäldernsehr an die Halbinsel<br />

Darß. Gerade will ich gelangweilt einschlafen,<br />

da glaube ich, meinen Augen nicht zu<br />

trauen: ein W50! „Hier!“, schreie ich Dima an:<br />

„Halt! Sofort umdrehen! Ich glaube ich<br />

spinne,einW50!“<br />

Ich habe schon für viele Überraschungen<br />

bei ausländischen Freunden gesorgt, zum<br />

Beispiel in Addis Abeba, als ich ähnlich aufschrie,<br />

meine äthiopische Künstlerfreundin<br />

einfach stehen ließ und auf die Straße stürzte,<br />

um einen W50 zu fotografieren. Gleiches ist<br />

mir auf Sansibar, auf Kuba, in Bulgarien und<br />

immer wieder im <strong>Berliner</strong> Umland oder Berlin<br />

passiert.<br />

Wir sind am Terminal für Cabo Polonio.<br />

Terminal klingt nach Flugzeug oder wenigstens<br />

Busoder Bahn. Aber es eine ganz andere<br />

Artvon Station: Es ist einW50-Bahnhof! Denn<br />

es ist nicht nur einW50, es sind nicht nur zwei<br />

oder drei –essind, wie mir scheint, unendlich<br />

viele: ein olivgrüner, ein roter, ein gelber und<br />

ein weißer, alle mit Allradantrieb, und bei allen<br />

ist die frühere Ladefläche mit Sitzen ausgestattet,<br />

und sogar über dem Dach ganz vorn<br />

kann man Platz nehmen.<br />

Ichspreche mit Edi, dem Chef. Eine Fahrt<br />

auf dem W50 kostet 125 Pesos,das sind etwas<br />

mehr als drei Euro.Die Fuhrgesellschaft heißt<br />

„ElSafaridel Cabo“. Dieeinzige Art, über sandige<br />

Pfade durch die Dünen und über den<br />

Strand in das Hippie-Dorf Cabo Polonio zu<br />

kommen, ist eine Fahrt auf diesen Lastern.<br />

Edisagt: „Für acht Kilometer Zuckersand und<br />

Schlamm bei Wolkenbrüchen braucht man<br />

robuste Fahrzeuge.“<br />

Cabo Polonio hat knapp 100 Einwohner,<br />

aber jeden Tagbringen die W50 die vielfache<br />

Menge Touristen hin und wieder zurück. Sie<br />

alle wollen in das Surferparadies an einer der<br />

größten Seelöwen-Kolonien und an die fantastischen<br />

Strände mit den größten Wanderdünen<br />

Südamerikas.Strände,die auch in der<br />

Hauptsaison kilometerlang und menschenleer<br />

zum Baden im warmenWasser einladen.<br />

Es gibt keine Straßen, keinen Strom, kein<br />

Wasser.Das soll auch so bleiben, um die Reize<br />

der Touristenattraktion zu bewahren. Der<br />

Name stammt im Übrigen von„Cabo Apolonio“,<br />

also nicht nach Polen, sondern nach<br />

Apollo ist das Paradies benannt. Dortsteht die<br />

W50-Station, die aussieht wie aus einemWestern:<br />

zwei Läden, Restaurants und Hostels,<br />

aber kein Geldautomat und keinWLAN.<br />

Leider machen Dima und ich lauter wahnsinnige<br />

Sachen: zu Fuß nach Cabo Polonio<br />

laufen, was mehrere Stunden dauert, ich suche<br />

nach Schwarzkrötchen, vondenen es hier<br />

eine besonders seltene Art geben soll. Das<br />

Schwarzkrötchen ist das Wahrzeichen des<br />

Nationalparks.<br />

IchfotografieredieW50 am Strand, springe<br />

ins Meer, esist herrlich, sich von den Wellen<br />

herumwerfen zu lassen. Ein Handtuch habe<br />

ich auch vergessen, bemerke ich, und beginne<br />

erbärmlich zu frieren. Wir steigen auf<br />

den Leuchtturm–Visita de Faro 30 Pesos –als<br />

wäreesunten nicht schon windig genug, und<br />

wir holen uns Ohrenschmerzen. Dann unternehmen<br />

wir eine Fahrtmit Ediganz oben auf<br />

dem trunkenenW50-Schiff, wir sind so durchgefroren,<br />

dass uns die Abgaswolke des Grobstaubdiesels<br />

als Wärmequelle sehr willkommen<br />

ist.<br />

Dima fährt dann allein weiter durch Uruguay.Ich<br />

muss hierbleiben und Edinoch viele<br />

Fragen stellen, nicht im Leben hätte ich gedacht,<br />

dass ein Ort gleichzeitig das Paradies<br />

für Schwarzkrötchen, Seelöwen und W50<br />

sein kann.<br />

EDI HEISST EIGENTLICH EDISON LORENZO<br />

und kommt aus Florida, einer Kleinstadt 100<br />

Kilometer nördlich von Montevideo. Später<br />

ist er in die Hauptstadt gezogen und vor 20<br />

Jahren nach Cabo Polonio. Er war vorher<br />

schon regelmäßig nach Aguas Dulce gekommen<br />

und hatte den legendären „El Francés“<br />

kennengelernt, „den Franzosen“, der Touren<br />

zwischen Cabo Polonio und Barra deValizas<br />

anbot. „ElFrancés“ stellte ihn ein, und sie arbeiteten<br />

zusammen bis zu seinem Tod. Dann<br />

kaufte Edidie Firmavon derWitwe.<br />

Und hatte dieser Franzose schon einen<br />

DDR-Laster? „Nein, er begann mit Jeep, Jeep<br />

Willys Truck, später einem amerikanischem<br />

Chevrolet, Dodge Guerrero und einem MagirusDeutz.“<br />

„Haben dich schon viele Ostdeutsche wegen<br />

der IFA-Laster angesprochen?“ Nein, ich<br />

sei der erste.<br />

Edi erzählt: „Einige Firmen nach ,El<br />

Francés‘ botendiese Fahrten an. Aber siebenutzten<br />

Fahrzeuge, die nicht den geringsten<br />

Sicherheitsstandards genügten. Es ist ein<br />

Wunder,dasssich keines bei der viel zu hohen<br />

Geschwindigkeit überschlagen hat.“<br />

Unser Autor war auf einer Fußballreise in Uruguay.Und eigentlich<br />

Stattdessen entdeckte er jede Menge aufpolierter W50-Trucks. Abe<br />

VonFalko<br />

Die einzige Art, über sandige Pfade durch die Dünen in das Hippie-Dorf Cabo Polonio zu kommen, ist eine Fahrtauf dem W50: „Für acht Kilomete<br />

Autor Hennig: „Ich glaub ich spinne, ein W50.“<br />

Ein Stück Prerow in Südamerika: ein umgebauter W50 am Strand von Cabo Polonio in Urug

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