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Berliner Zeitung 27.04.2019

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8 27./28. APRIL 2019<br />

FANTASY<br />

VonChristian Seidl<br />

OLD SCHOOL<br />

VonChristoph Dallach<br />

Die verkaufte Braut<br />

Fantasy-Literatur wirdjaoft als Ausdruck der<br />

Weltflucht geschmäht, als Hort trivialer Schimären,<br />

die sich Wahrheit, Klarheit und allem,<br />

was Bücher sonst so zu liefernhaben, verweigern.<br />

In guten Fantasy-Romanen, und dazu<br />

gehört auch Christelle Dabos’ Reihe um „Die<br />

Spiegelreisende“, ist das Gegenteil der Fall.<br />

Hier wirdzwar eine fantastische Welt erschaffen<br />

–die Erde ist zerbrochen, und die Menschen<br />

leben auf „Archen“ genannten schwebenden<br />

Inseln –, doch die Geschichten erzählen<br />

Geschichten über uns,nur eben an einem<br />

Ort, an dem alles möglich ist: Neue Gesellschaftssysteme<br />

und Regierungsformen werden<br />

erprobt, politische, soziale und moralische<br />

Konflikte ausgetragen, ja letzte Dinge angegangen,<br />

und nichts prallt an unverrückbare<br />

Verhältnisse. Hauptfigur ist das Mädchen<br />

Ophelia, das mit der Gabe ausgestattet ist,<br />

durch Spiegel zu reisen und durch die Berührung<br />

eines Gegenstandes dessen Geschichte<br />

zu „lesen“. Aus angeblich politischen Gründen<br />

wirdsie an den Adligen Thornverheiratet<br />

und folgt ihm auf eine ferne, fremde Arche.<br />

Undschon ist sie mitten in einer großen, geheimnisvollen<br />

Verschwörung. Wie sie da<br />

wieder rauskommt, werden mindestens<br />

zwei weitere, vom<br />

Verlag bereits angekündigte<br />

Bände zeigen. Wir<br />

tippen mal: mit Fantasie.<br />

Der Wegnach Westeros<br />

Christelle Dabos:<br />

Die Spiegelreisende: Die Verlobten<br />

desWinters<br />

Ausdem Französischen vonAmelie<br />

Thoma. Insel, Berlin 2019. 535 S.,<br />

18 Euro<br />

Wie man ein Fantasiereich entwirft, das bis<br />

ins kleinste Detail stimmig und greifbar ist,<br />

zeigt George R.R. Martin auf spektakuläre<br />

Weise.Solebensecht ist dieWelt insbesondere<br />

in seinem Opus magnum „Das Lied von Eis<br />

und Feuer“, dass er praktisch die Conditio humana<br />

hineinpacken kann, und Millionen Leser<br />

seiner Romane sehen darin neben Drachen<br />

und Untoten vor allem sich selbst. Leider<br />

ist die auf sieben Bände angelegte Reihe<br />

ins Stocken geraten, 2011 erschien der fünfte<br />

und bislang letzte Band „A Dance with Dragons“,<br />

und die TV-Adaption „Game of Thrones“<br />

muss nun ihr eigenes Ende spinnen.<br />

Martin hat eben sein eigenes Tempo und<br />

seine eigenen Prioritäten. Undsohat er erst<br />

mal ein Prequel eingeschoben: „Feuer und<br />

Blut“ heißt das Ganze, es beschreibt „Aufstieg<br />

und Fall des Hauses Targaryenvon Westeros“,<br />

und es ist ein großer Lesespaß. Verfasst, so erfährt<br />

man, ist es nämlich „von Erzmaester<br />

Gyldayn aus der Zitadelle von Altsass“,<br />

George R.R. Martin ist lediglich Transkriptor.<br />

Undsoist das Buch in einem herrlich altertümlich-manieriertem<br />

Chronisten-Tonfall<br />

gehalten, bruchlos von der ersten bis zur<br />

letzten Seite. Ein hochartistisches<br />

Erzählexperiment, für das<br />

diesem Giganten der Fantasy-Literatur<br />

die paar<br />

Jahre Verzögerung sofort<br />

verziehen sind.<br />

GeorgeR.R. Martin:<br />

Feuer und Blut<br />

Ausdem Englischen vonAndreas<br />

Helweg.Penhaligon, München<br />

2018.896 S.,26Euro<br />

„Die Kälte packte mich im Nacken wie einen Welpen“: Angehörige der verunglückten Bergleute von Liévin am 27. Dezember 1974.<br />

Aus dem Kohlerevier<br />

Sorj Chalandon schreibt in „Am Tagdavor“ von einem Grubenunglück mit vielen Folgen<br />

VonCornelia Geißler<br />

Sorj Chalandon: Am Tagdavor<br />

Roman. Ausdem Französischen vonBrigitte Große.<br />

dtv,München 2019. 320 S.,23Euro<br />

Der Erzähler zieht den Leser von<br />

Anfang an auf seine Seite.Erlässt<br />

sein 16-jähriges Ichwiederauferstehen,<br />

im Dezember 1974 in<br />

Liévin-Lens in Nordostfrankreich. Dieser Michel<br />

Flavant ist voller Bewunderung für seinen<br />

großen Bruder Joseph. Derkann den Gesang<br />

der Fördertürme des alten Steinkohlebergwerks<br />

am Ort imitieren so wie andere<br />

Leute Vogelstimmen. Als er erkennt, dass er<br />

seinen Traum, Rennfahrer zu werden, nicht<br />

wahr machen kann, wird ernicht Bauer wie<br />

der Vater, sondern geht in die Kohle. Dort<br />

ereignet sich am 27. Dezember 1974 ein<br />

schweres Unglück, das zu verhindern gewesen<br />

wäre. Nach den Weihnachtsfeiertagen<br />

war die Grube weder entlüftet noch befeuchtet<br />

worden. Michel hört die Analyse im Radio:<br />

„Und der Name des Mörders: schlagende<br />

Wetter.“<br />

DasGrubenunglück, das den Roman „Am<br />

Tagzuvor“ von Sorj Chalandon bestimmt,<br />

hat es wirklich gegeben. Der Autor widmet<br />

seinen Roman den 42 Bergleuten, die damals<br />

ums Leben gekommen sind, nennt am Ende<br />

alle ihreNamen. MitJoseph Flavant hat er ihnen<br />

noch einen Bergmann zur Seite gestellt.<br />

Manerfährtviel über die Bedingungen in der<br />

Grube,von den Möglichkeiten, den Ertrag zu<br />

steigern, indem man die Sicherheitsanforderungen<br />

herunterschraubt. Auf den ersten<br />

Seiten des Buches entsteht anschaulich das<br />

Städtchen, das vomBergwerklebt und unter<br />

dessen Bewohnernein besonderes Gemeinschaftsgefühl<br />

und sogar Stolz herrscht. Man<br />

liest vonder harten Arbeit in einem Gewerk,<br />

dessen Ende auch schon in den 70er-Jahren<br />

absehbar war.<br />

Michel Flavent erzählt hier als Erwachsener<br />

zu einer Zeit, da seine Ehefrau gerade an<br />

Krebs gestorben ist, er seine Stelle als Kraftfahrer<br />

und die Wohnung in Paris verlassen<br />

hat. Er geht zurück in den Ort seiner Kindheit,<br />

um sich zu rächen. DerAutor hat bis dahin<br />

alles getan, um den Leser mit Michel fühlen<br />

zu lassen. „Ich war an Josephs Todverwelkt“,<br />

schrieb er für ihn, und weiter:„Meine<br />

Jugend war alt geworden.“ Er hat geschildert,<br />

wie es bei ihm zu Hause nach dem Toddes<br />

Bruders, bald auch des Vaters, aussah, mit<br />

seiner Mutter in der „Minderheit der Lebenden“.<br />

Das kann kein Leserherz kaltlassen.<br />

Sorj Chalandon fordertstarke Gefühle.<br />

Doch man hätte es vielleicht ahnen können,<br />

dass da noch etwas anderes kommt. Der<br />

Autor ist in Frankreich seit einigen Jahren mit<br />

Romanen erfolgreich, die persönliche Dramen<br />

vorhistorischen Hintergründen behandeln.<br />

Undsogut recherchiertervom Arbeitsleben<br />

schreibt, so deutlich er politische Positionen<br />

einbaut („Schicksal gibt’s nicht. Die<br />

Chefs nennen es Profit.“), hält er noch eine<br />

Wendung bereit, die das emotionale Band<br />

zwischen der Erzählerfigur und dem Leser<br />

zum Zerreißen spannt. Es wäre fahrlässig,<br />

das künftigen Lesern schon zu verraten. Die<br />

Fallhöhe überzeugt nur deshalb,weil der Autor<br />

selbst sie vorher so aufgebaut hat.<br />

Sorj Chalandon, 1952 in Tunis geboren,<br />

war als Reporter der <strong>Zeitung</strong> Libération jahrelang<br />

für Krisenstaaten wie Libanon, Iran,<br />

Irak, Somalia und Afghanistan zuständig. Er<br />

hat dabei das genaue Schreiben trainiertund<br />

weiß als Schriftsteller die Vorstellungen der<br />

Leser zu steuern. „Die Kälte packte mich im<br />

Nacken wie einen Welpen“, beschreibt der<br />

Ich-Erzähler seinen Eindruck von der Nacht<br />

zum 27. Dezember. Dieser führt über Jahre<br />

Notizhefte, indenen er alles über die Grube<br />

und das Unglück zusammenträgt. Schon im<br />

ersten treffen widersprüchliche Formulierungen<br />

aufeinander, Michel hatte sie in <strong>Zeitung</strong>en<br />

gefunden und im Radio gehört: „Geopfert<br />

für das Vaterland“ und „Rendite über<br />

alles“, „Held der Arbeit und „Arbeit sollte<br />

nicht tödlich sein.“ Er nennt sich später<br />

selbst „vergiftet“, so besessen ist er von den<br />

Gedanken an seinen Bruder.Beim ersten Lesen<br />

erscheint es einem noch zu dick aufgetragen,<br />

wenn Michel bei seiner sterbenden<br />

Frau sitzt und er an die Kohleader denken<br />

muss, inder Joseph schürfte, während der<br />

Arzt nach der Vene tastet. Dieses extreme<br />

Denken ist Teil seines Programms.<br />

DerAutor dreht an den Verhältnissen, um<br />

am Ende alles eine Ebene höher zu heben.<br />

Michel Flavant hat„sein persönliches Drama<br />

ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben“,<br />

wird esdann heißen, das kann so auch für<br />

den Roman stehen. „Das Land teilte unsere<br />

Trauer nicht. Als es von Kohle Abschied<br />

nahm, vergaß es,Abschied vonseinen Bergleuten<br />

zu nehmen“, schreibt er anlässlich einer<br />

Gedenkveranstaltung im Jahr 2014, zu<br />

der auch der damalige Premierminister Manuel<br />

Valls kommt. Sorj Chalandon erzählt<br />

voneiner fiktiven Familie,verknüpft ihreGeschichte<br />

aber so eng mit Politik und Wirtschaft<br />

jener Jahre, dass sein Buch auch ein<br />

Denkmal für eine vergessene Arbeitswelt ist.<br />

AFP<br />

Gelbes Soundmeer<br />

Über die sogenannte„Ambient“-Musik kann<br />

man herrlich streiten. Dasfängt schon damit<br />

an, dass viele Experten sagen, es sei gar keine<br />

Musik, sondern bloß ein possierliches Hintergrundsurren.<br />

Auch über den Ursprung<br />

dieses Genres lässt sich ausgiebig debattieren:<br />

Warder Franzose Erik Satie der Begründer<br />

dieser Tagtraumklänge? Oder der Art-<br />

Rock-Zauberer Brian Eno, der Ende der 70er-<br />

Jahre mit dem Album „Ambient 1: Music for<br />

Airports“ den Begriff einführte und einen<br />

Klassiker schuf? Enos Melodien an der<br />

Grenze zur Stille fanden jedenfalls weltweit<br />

ein euphorisches Publikum.Wieviele Künstler<br />

sich davon inspirieren ließen, illustriert<br />

der fabelhafte Sampler „Kankyo Ongaku“<br />

mit Ambient aus Japan, wahlweise auf zwei<br />

CDs oder drei Vinylalben. Das mit viel Liebe<br />

zum Detail und mit üppigen Informationen<br />

zur Musik ausgestattete Werk bietet 23 wundersame,<br />

minimalistische, instrumentale,<br />

vollelektronische Tracks, die jenseits von Japan<br />

nie veröffentlicht wurden, von Künstlern,<br />

die mit Ausnahme des YellowMagic Orchestra<br />

und von Haruomi Hosono nur Eingeweihten<br />

bekannt sind. Die zwischen 1980<br />

und 1990 entstandenen, verschnörkelten<br />

Tagtraummelodien fließen so elegant zusammen,<br />

als wären sie dafür konzipiertworden.<br />

Dazu empfiehlt<br />

sich eine<br />

Tasse grüner Tee.<br />

Purpurne Küsse<br />

Diverse:<br />

Kankyo Ongaku –<br />

Japanese Ambient<br />

1980–1990<br />

Light in the Attic/Cargo<br />

Als Prince vor drei Jahren überraschend abtrat,<br />

war die Trauer groß –allerdings waren<br />

die meisten Fans mit der Musik, die er in seinen<br />

finalen Jahren produziert hatte, kaum<br />

noch vertraut. Der Mann hatte zuletzt einfach<br />

zu viele Songs in zu kurzer Zeit unters<br />

Volk gebracht, und wirklich toll war davon<br />

nur weniges.Nun haben sich seine Erben geeinigt,<br />

sodass seit einiger Zeit die eher unbekannten<br />

Arbeiten aus der Spätphase seiner<br />

Karriere restauriert und neu aufgelegt werden.<br />

Auch das 1999 eingespielte Album<br />

„RaveUn2 the Joy Fantastic“, das jetzt zum 2-<br />

CD-Set plus DVD aufgemöbelt wurde. Eine<br />

Platte,die ihm wichtig war,weil er sich damit<br />

bei einem neuen Label vorstellte.Also trommelte<br />

der Meister Gäste wie Gwen Stefani,<br />

Chuck Dund Sheryl Crow zusammen, gab<br />

sich mehr Mühe mit der Musik, und dennoch<br />

zündete die Platte nicht. Wenig später<br />

lieferte er eine überarbeitete Version nach,<br />

und als die auch nicht abhob, inszenierte er<br />

ein Konzert mit den neuen Songs, prominenten<br />

Gästen und den alten narrensicheren<br />

Hits wie „Kiss“, „Let’s Go Crazy“ oder „Nothing<br />

Compares 2U“, das damals exklusiv auf<br />

seiner Webseite zu bestaunen war. Als Dreierpack<br />

ist das alles nun doch gut anzuhören<br />

und erinnert aneinen außergewöhnlichen<br />

und herausfordernden<br />

Künstler. Nur<br />

das Cover sollte<br />

man sich wegdenken.<br />

Prince:<br />

Ultimate Rave<br />

SonyMusic<br />

OL

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