Procycling 06.2019
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DAS GROSSE INTERVIEW<br />
s gibt in der roten und kargen<br />
EDoch Mondlandschaft auf zu dieser Jahreszeit führt er ein weitaus abgeschiedeneres<br />
Leben.<br />
dem Teide-Vulkan kaum etwas, das einen Mann<br />
von dieser fundamentalen Frage ablenken kann: Worum geht es dabei? Im Grunde geht es darum,<br />
Pauschalreisen an nordeuropäische Urlauber<br />
Warum mache ich das?<br />
Das ist gefährliches Gebiet. Das Leben eines zu verkaufen. Heute Morgen mussten Dumoulin<br />
Radprofis beinhaltet, die Absurdität seiner zentralen<br />
Prämisse anzunehmen, aber auch darüber von Sunweb wiederholt denselben Abschnitt des<br />
und Mitglieder des Männer- und des Frau enteams<br />
hinwegzusehen: nämlich, dass der Lebensunterhalt<br />
eines Erwachsenen mit der Meisterhaftigkeit spot für ihren Sponsor zu drehen. Aber man kann<br />
Bergs hoch und runter fahren, um einen Werbe<br />
in etwas bestritten wird, das einst ein Spielzeug davon ausgehen, dass Werbung für Urlaube nicht<br />
der Kindheit war. An diesem Februarmorgen geht in Dumoulins Kopf herumgeht, wenn er bei einem<br />
die Welt ihrem täglichen Geschäft nach, und Tom Zeitfahren von der Startrampe rollt.<br />
Dumoulin dem seinen. Er führt die Sisyphusarbeit<br />
aus, mit dem Fahrrad einen aus dem Atlantik wendigkeit, Geld zu verdienen, doch für Dumou<br />
Einige Athleten motiviert eine dringende Not <br />
ragenden Vulkan hoch und runter zu fahren, um lin, der in einer Mittelschichtfamilie in Maastricht<br />
sich auf die bevorstehende Saison vorzubereiten. aufgewachsen ist und über ein Medizinstudium<br />
Im Sommer wird Dumoulin diese Übung vor Tausenden<br />
von schreienden Fans am Straßenrand in Motivation zu sein. Andere scheinen getrieben<br />
nachgedacht hat, scheint dies keine unmittelbare<br />
Frankreich und Italien und Millionen, die zu Hause<br />
vor dem Fernseher zuschauen, wiederholen. Bedürfnis zu gewinnen, aber der weltgewandte<br />
von einem tief sitzenden, fast soziopathischen<br />
Dumoulin, der seine Hochzeitsreise in den Himalaya<br />
gemacht und eine Vorliebe für die italienische<br />
Kultur hat, scheint kein Opfer einer solchen<br />
Monomanie zu sein. Ruhm? Der reiche ihm<br />
schon, sagt er.<br />
Aber da ist er, in der Sekte von Radprofis, die<br />
nach Teneriffa pilgern und sich wie Asketen von<br />
einst 2.000 Meter über dem Meeresspiegel von<br />
der materiellen Welt abkapseln. Für Männer wie<br />
Dumoulin, Vincenzo Nibali und Ilnur Zakarin,<br />
die in dieser Woche im Parador-Hotel unterhalb<br />
des Gipfels des Teide-Vulkans wohnen, gibt es<br />
wenig zu tun, außer den Regeln zu folgen, die<br />
das klösterliche Leben eines Grand-Tour-Favoriten<br />
ihnen auferlegt. Ihr „ora et labora“ ist trainieren<br />
und schlafen.<br />
An diesem Nachmittag endet Dumoulins Trainingsfahrt<br />
40 Kilomter vor dem Hotel, seine eleganten<br />
Pedalumdrehungen werden langsamer<br />
und er kommt zum Stehen. Sein Teamkollege<br />
Michael Matthews, dessen Ziele früher kommen,<br />
fährt noch weiter, aber Dumoulin weiß, dass sein<br />
Körper genug hat. Die Autofahrt zum Hotel gibt<br />
ihm Zeit zum Gedankenaustausch mit dem Sunweb-Sportdirektor<br />
Brian Stephens. Die Einzelheiten<br />
von Dumoulins Wattzahlen treten zurück<br />
hinter eine existenziellere Frage. Die nagende Frage,<br />
die sich wiederholt. Warum macht man das?<br />
„Im Auto reden wir darüber. Warum quält man<br />
sich da komplett durch? Es ist nicht leicht, denn<br />
du musst neue Wege finden, dich fertigzumachen<br />
und zu leiden. Und warum tust du das?“, sagt Dumoulin<br />
später, nachdem er in einem Aufenthaltsraum<br />
des Parador in eine Couch gesunken ist.<br />
„Ich glaube, ich mag den Weg, und ich glaube,<br />
jeder Fahrer mag diesen Weg. Brian sagte auch:<br />
‚Wenn der einzige Ehrgeiz in deiner Radsportkarriere<br />
ist, die Tour de France zu gewinnen, was<br />
machst du dann, wenn du sie gewinnst?‘ Ist das<br />
alles? Hörst du auf mit dem Radsport? Irgendwie<br />
gibt es eine Motivation außerhalb des Resultats,<br />
und das ist alles, was das Radfahren mit sich<br />
bringt – wie frei zu sein.“<br />
Die holländischen Fans haben keine so existenziellen<br />
Zweifel. Freiheit schien Ende 2017 Mangelware<br />
zu sein für Dumoulin, als seine Siege<br />
beim Giro und der Zeitfahr-Weltmeisterschaft<br />
seinen Ruhm über die Grenzen der einheimischen<br />
Anhängerschaft hinaus in die breite Masse vordringen<br />
ließen. Er fremdelte bereits mit seinem<br />
Bekanntheitsgrad, als an einem duftenden Maiabend<br />
Tausende auf den Markt in Maastricht<br />
strömten, um den rückkehrenden Giro-Champion<br />
zu feiern. Dumoulin, der ohne Sportidole aufgewachsen<br />
ist, sagte der Zeitung De Limburger später,<br />
er habe es absurd gefunden, dass Leute in<br />
Scharen gekommen seien, um „für einen Jungen<br />
zu klatschen, der schnell fahren kann“, und merkte<br />
an, dass niemand einem Arzt applaudiere,<br />
wenn er ein Leben rettet.<br />
Als die Saison vorbei war und Dumoulin kurz<br />
von seinem streng strukturierten Programm befreit<br />
war, stellte er fest, dass sein Privatleben jetzt<br />
durch seinen neuen Ruhm beeinträchtigt wurde.<br />
Preisverleihungen, Interviews, Autogramme in<br />
Supermarktschlangen; in Isolation wurden die<br />
Pflichten eines Radstars bereitwillig getragen,<br />
aber die Flut von Anfragen drohte ihn zu überwältigen,<br />
zumal er erkannt hatte, dass das jetzt die<br />
neue Normalität war.<br />
„Es war schwer, damit umzugehen, mit diesem<br />
Gefühl, dass das mein neues Leben ist“, sagt Dumoulin<br />
jetzt. „Für einige Leute bin ich eine Art<br />
Held, und das ist komisch. Ich wollte das nicht<br />
sein, daher hatte ich ein bisschen damit zu kämpfen<br />
… und damit, dass mein Privatleben in mein<br />
32 PROCYCLING | JUNI 2019