Procycling 06.2019
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RETRO<br />
ONCE<br />
DIE LETZTEN<br />
KRIEGER<br />
In den 1990ern stellte das spanische Team<br />
ONCE die etablierte Radsport-Hierarchie und die<br />
traditionellen Methoden auf den Kopf, bevor sie sich zu<br />
ernsthaften Herausforderern für ihre Rivalen Banesto bei<br />
der Tour de France entwickelten. <strong>Procycling</strong><br />
untersucht, wie ihnen das gelang.<br />
Text William Fotheringham Fotografie Getty Images<br />
Jedes große Team hat zu irgendeinem Zeitpunkt<br />
in seiner Geschichte einen Moment<br />
des Durchbruchs. Es ist nicht unbedingt ein<br />
Sieg. Es ist eher ein Punkt bei einem hochkarätigen<br />
Rennen, wo dieses Team zusammenarbeitet<br />
und als Einheit beeindruckt, mehr wird als die<br />
Summe seiner einzelnen Teile. Im Fall des spanisches<br />
Teams ONCE, gesponsert von der Blindenorganisation<br />
des Landes, kam dieser Augenblick<br />
bei der Tour de France 1992 auf der 15. Etappe<br />
nach Saint-Étienne, als das Rennen die Alpen<br />
hinter sich ließ und sich nach Paris bewegte.<br />
Der Col de la Croix de Chaubouret, der entscheidende<br />
Anstieg vor dem Ziel, war der Punkt,<br />
an dem ONCE in Aktion trat. Hier machten die<br />
Männer in Pink – eine Abwechslung zu ihrem<br />
üblichen gelben Outfit – einen konzertierten Versuch,<br />
Johan Museeuw das Grüne Trikot zu entreißen,<br />
um es mit Laurent Jalabert zu übernehmen:<br />
Im Anstieg verschärfte der australische Domestik<br />
Neil Stephens immer wieder das Tempo und dezimierte<br />
die Gruppe, an deren Ende Museeuw zu<br />
kämpfen hatte.<br />
Es war ein weiteres Scharmützel in einem<br />
Kampf, der begonnen hatte, als Jalabert neun<br />
Etappen zuvor eine dramatische Etappe nach<br />
Brüssel gewonnen hatte; die beiden hatten das<br />
Trikot danach abwechselnd getragen, aber hier<br />
war die Gelegenheit für ONCE, einen entscheidenden<br />
Vorsprung zu erringen. Und so kam es:<br />
In Saint Etienne war von Museeuw nichts mehr<br />
zu sehen, Jalabert wurde Vierter und schlüpfte ins<br />
Grüne Trikot, das er bis Paris tragen sollte – als<br />
erster Franzose seit Bernard Hinault 1979.<br />
Das Grüne Trikot der Tour 1992 war nicht der<br />
erste große Sieg für ONCE. Im Gegenteil. 1991<br />
gewann das Team die Vuelta mit dem unbekannten<br />
Melcior Mauri, aber das hätte man als Glückstreffer<br />
abtun können. Das Team gewann außerdem<br />
zwei aufeinanderfolgende Etappen der Tour<br />
1990 mit Eduardo Chozas und Marino Lejarreta,<br />
auch Jalaberts Etappensieg 1992 in Brüssel war<br />
ein Klassiker gewesen. An einem Tag mit Regen<br />
und Kopfsteinpflaster gewann er aus einer vierköpfigen<br />
Ausreißergruppe heraus, in der auch<br />
Greg LeMond und Claudio Chiappucci fuhren.<br />
Doch der Moment am Croix de Chaubouret war<br />
anders: Es war keine individuelle Leistung. Es war<br />
ein Punkt, an dem ONCE als Einheit der Tour, der<br />
größten Arena im Radsport, seine Autorität auf-<br />
zudrücken begann – und das bei einem Rennen,<br />
das vom spanischen Helden der Stunde, Miguel<br />
Indurain, dominiert wurde. Es war eine klare Ansage,<br />
dass da ein weiteres spanisches Team im<br />
Rennen war neben Indurains Banesto, eines, das<br />
eine andere Fahrweise hatte. Von da bis zu seiner<br />
Auflösung 2003 sollte ONCE bei der Tour immer<br />
präsent sein.<br />
Ich würde die großen Radsportteams in zwei<br />
Kategorien einteilen. Die einen ähneln Dynastien,<br />
die wechselnde Sponsoren unter einem weitgehend<br />
gleichen Management haben: Man denke an<br />
Peter Posts Raleigh und Panasonic; Giancarlo Ferrettis<br />
Bianchi, Ariostea, MG und Fassa Bortolo;<br />
Cyrille Guimards Renault, Système-U und Castorama.<br />
Heute hat der Radsport Deceuninck–Quick-<br />
Step, dessen Wurzeln bis zu Capri Sonne in den<br />
frühen 1980ern reichen, auch wenn die heutige<br />
Version auf 2003 zurückgeht, dazu Movistar, das<br />
– ebenfalls in den frühen 1980ern – als Reynolds<br />
begann und lange unter Banesto firmierte.<br />
Die andere Kategorie sind die Formensprenger:<br />
Teams, die neue Sachen machen, neue<br />
Ideen entwickeln und auf andere Weise Rennen<br />
fahren. Das Team Sky entspricht diesem<br />
98 PROCYCLING | JUNI 2019