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FOKUS LINN

FOKUS LINN Nr. 5 – Jubiläumsausgabe Mai 2019

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KULTUR<br />

Bilder Stapferhaus / Anita Affentranger<br />

Ausstellung «Fake»<br />

(Stapferhaus):<br />

In der «Abteilung für<br />

strategische Täuschung»<br />

berichten<br />

verschiedene Tiere von<br />

ihrem Leben zwischen<br />

Wahrheit und Lüge.<br />

«Als Bundesrat muss man lügen, sonst<br />

gilt man als unkollegial.»<br />

Obrigkeitsgläubig wie ich bin, suche ich<br />

nun also meinen Weg durchs Amt. Und<br />

Irgendwann müssen die 200<br />

täglichen Lügen pro Person ja<br />

schliesslich erzählt werden.<br />

weil ich vor dem Betreten jeder Abteilung<br />

meinen Besucherausweis brav abstempelte,<br />

habe ich stets die Übersicht, wo ich<br />

schon war und wo meine Mitarbeit noch<br />

gefragt ist. Sich im Amt verirren kann damit<br />

eigentlich niemand; sich im Dickicht<br />

von Wahrheit und Lüge verhaken hingegen<br />

schon. Sie sind gewarnt.<br />

Vor jeder Abteilung werde ich von einer<br />

Kollegin oder einem Kollegen von Hans<br />

Wahr, alle gespielt vom deutschen Schauspieler<br />

Martin Wuttge, empfangen. «Unsere<br />

ganze Demokratie würde flöten gehen,<br />

wenn wir nicht mehr vertrauen<br />

können: in Politik und Justiz, Wissenschaft<br />

und Bildung, Journalismus und Medizin –<br />

naja, vielleicht ja sogar Kirche und Wirtschaft<br />

– da will ich doch sicher sein, dass<br />

«Klug ist, wer nur die Hälfte von<br />

dem glaubt, was er hört. Noch<br />

klüger, wer erkennt, welche<br />

Hälfte die richtige ist.»<br />

die mich nicht anlügen», erfahre ich an der<br />

Schwelle zur «Kommission für Glaubwürdigkeit».<br />

Ich stutze. Wie bitte passt das mit<br />

einer Aussage von Christoph Blocher zusammen,<br />

die ich vor einigen Wochen in<br />

der Sonntagszeitung gelesen habe? «Ui,<br />

da kann ich keine Hitparade machen,<br />

das waren zu viele», antwortete der<br />

Alt-SVP-Bundesrat auf die Fragen nach seiner<br />

dreistesten Lüge. «Als Bundesrat muss<br />

man lügen, sonst gilt man als unkollegial.<br />

Aber der Zweck heiligt die Mittel.» 1 Anders<br />

gesagt: Stimmt das Ziel, darf – ja muss –<br />

ein Politiker lügen. Oder mit den Worten<br />

von CVP-Präsident Gerhard Pfister: «In der<br />

Politik gibt es keine Wahrheit. Politik bewertet<br />

Fakten einfach unterschiedlich.» 2<br />

Der Pfarrer, eines der Mitglieder der «Kommission<br />

für Glaubwürdigkeit» formuliert<br />

es so: «Wahrheit ist nicht fix, sondern verhandelbar.»<br />

25 Minuten dauert die Debatte der Kommission.<br />

Entstanden ist sie auf der Basis<br />

von über 250 Antworten einer Befragung,<br />

die das Stapferhaus unter gesellschaftlichen<br />

Verantwortungsträgerinnen und -trägern<br />

durchgeführt hat. Ich würde lügen,<br />

wenn ich behauptete, dass ich den Statements<br />

von A bis Z stets wach und klar gefolgt<br />

wäre. Im Unterschied zu vielen Mitbesuchern,<br />

die den Raum jeweils nach wenigen<br />

Minuten wieder verlassen haben, habe<br />

ich es aber immerhin versucht.<br />

Etwas erschlagen gehe ich weiter zur «Zentralen<br />

Lügenanlaufstelle». Dort ist meine<br />

Mithilfe gefragt. Es gilt, die eingegangenen<br />

Lügen zu beurteilen: Sind sie verzeihlich?<br />

Oder absolut nötig? Oder gar tödlich? Die<br />

Einordnung geht mir flott von der Hand.<br />

Die Handlungsweise anderer zu beurteilen<br />

ist immer einfacher als den eigenen Alltag<br />

integer zu gestalten. Dennoch setze ich<br />

meinen Weg nachdenklich fort. Wäre die<br />

Welt ein besserer Ort, wenn wir alle radikal<br />

ehrlich wären? Oder wirkt die Höflichkeitslüge<br />

geradezu als sozialer Kitt, während<br />

uns radikale Ehrlichkeit zu sozialen Aussenseitern<br />

machen würde, wie Jana Nikitin,<br />

Professorin für Persönlichkeits- und Entwicklungspsychologie<br />

an der Universität<br />

Basel, meint? 3 Vielleicht hat aber auch Max<br />

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