Nicht alle Briefe sind einfach zu entziffern. Dieser Brief ging von Brugg nach Konstantinopel; er datiert vom 4. Juni 1859. 160
KULTUR «Mein herzallerliebster Grosssohn!» Der Brief als Kulturgut. Text Peter Belart «Mein liebes, fernes Kind! – Ich erwachte am Samstag Morgen, mit Thränen in den Augen, ich hatte im Traume noch einmal die furchtbare Abschiedsscene durchgemacht und Dich herzlich geküsst. Es war wieder ein Traumbild. Ach, gutes Kind, ich träume jede Nacht von Dir und Hans, weil ich immer an Euch denke, weil ich zu oft vor Eurem lieben Bild weile und Euch in die Augen blicke.» Dies sind die ersten Zeilen eines langen Briefes, den Veronika Belart-Henz am 23. Januar 1859 an ihre Tochter Marie schrieb. Seit einem Monat lebte diese mit ihrem Mann Hans Siegrist in Konstantinopel. Hunderte von Briefen gingen in den folgenden sechs Jahren von Brugg in die Weltstadt und von dort heim ins Aarestädtchen. Es sind unschätzbare Dokumente aus einer längst vergangenen Zeit. Sie geben Auskunft über Alltägliches, über mehr oder weniger aufregende familiäre Ereignisse, über Krankheit, Tod und neues Leben, über Gepflogenheiten, Wertevorstellungen, Sorgen und Ängste in einer Ausführlichkeit, wie wir sie nicht mehr kennen. Der Brief als persönlicher Ausdruck Heutzutage schreiben wir kaum noch Briefe. Der moderne schriftliche Verkehr nutzt die elektronischen Möglichkeiten, die zwar sehr viel schneller, aber auch vergänglicher und deshalb unverbindlicher und oberflächlicher sind als Handgeschriebenes. Sobald gelesen und beantwortet, löschen wir die empfangenen Mitteilungen wieder. Der Nachwelt bleibt kaum etwas erhalten, und so wird es zwar dereinst ein Leichtes sein, unser Geburts- und Todesdatum, unsere AHV-Nummer und andere persönliche Fakten herauszufinden. Das Leben selbst aber geht in seiner individuellen Einmaligkeit verloren, denn niemand wird mehr wissen, ob wir sanftmütig oder forsch waren, ob wir viele Witze kannten und erzählten oder ob wir lieber Süsses als Pikantes assen. Persönliche Briefe dagegen lassen den Menschen in seiner ganzen Vielschichtigkeit erkennen, und zwar nicht nur über den Inhalt. Die Schrift lässt Rückschlüsse über seinen Gemütszustand, seine Charaktereigenschaften und seine Schreibfertigkeit zu; der Satzbau verrät einiges über seinen Bildungsstand; in gleichem Sinne lassen sich Einschlüsse in französischer Sprache deuten. Und wenn wir aus einer ganzen Korrespondenz sehen, welche Themen schwergewichtig behandelt und welche weggelassen oder nur gestreift wurden, lässt dies ein klar konturiertes, leben- Persönliche Briefe dagegen lassen den Menschen in seiner ganzen Vielschichtigkeit erkennen, und zwar nicht nur über den Inhalt. diges Bild jener Personen entstehen. Darin liegt der Reiz der Beschäftigung mit alten Briefen. Dazu kommt das Eintauchen in eine ganz andere Lebensrealität. Sie liegt im einleitend zitierten Briefwechsel «nur» rund 150 Jahre zurück, doch beim Lesen jener Schriftstücke erleben wir die fundamentalen Unterschiede vom Damals zum Heute. Dazu gehört zum Beispiel der Stellenwert, den die Religion vor 150 Jahren hatte; dazu gehört ein gewisser Fatalismus gegenüber Geschehnissen, die man damals nicht zu beeinflussen vermochte; dazu gehören die ungeheuren technischen Fortschritte, die jeden Aspekt unseres Lebens prägend beeinflussen. Beim Lesen der alten Briefe erleben wir recht eigentlich Geschichte. Selbst vordergründige Dinge sind aufschlussreich: Wie wurde der Briefbogen beschrieben – eng/weit, randfüllend, rechtwinklig oder gar diagonal überschrieben. Welche Farbe und Stärke hatte das Papier, welches Papierformat wählte der Absender, von welcher Beschaffenheit war das Kuvert, und wie wurde es verschlossen: zugeklebt oder versiegelt? Brücke von gestern zum Heute Persönliche Briefe lassen ferner Aufschlüsse über die individuelle Beziehung zwischen Absender und Empfänger zu. Jakob Belart (1804–1855) redete seine Eltern mit «Sie» an. Trotzdem erkennen wir bei der Lektüre seiner Briefe nicht etwa eine befremdliche Distanz, sondern grosse emotionale Nähe. Am 16. September 1820 begann er mit «Theuerste der Eltern!» und schloss mit dem Satz «Adieu, meine Theuersten, grüsst mir vielmal beiderseits die lieben Grosseltern, die Verwandten und Bekannten, und Euch grüsst am herzlichsten Euer gehorsamer Sohn.» Umgekehrt lautet die Anrede in einem Brief, den Jakobs Grossvater Johannes Belart (1747–1839) seinem Enkel am 8. Januar 1823 schrieb: «Mein herzallerliebster Grosssohn!», und am Schluss steht der Satz «Nun lebe ferners recht wohl, mein lieber, lieber Grosssohn, die ganze Verwandtschaft und Bekanntschaft grüsst Dich herzlich und wünscht Dir alles Gute. Am herzlichsten aber grüsst Dich Dein getreuer Dich liebender Grossvater Belart.» Schliesslich sind die alten Briefe auch von sprachgeschichtlichem Interesse. Sie enthalten Ausdrücke, die uns fremd sind oder die wir gar nicht mehr kennen: «Götti» stand sowohl für den Paten als auch für das Patenkind, für «Wasche» brauchen wir heute das Wort «Wäsche», und statt «Neujahrkindli» sprechen wir vom Christkind – Geschenke gabs damals nicht an Weihnachten, sondern am Neujahrstag. Alte schriftliche Dokumente – Protokolle, Verträge, Rechenschaftsberichte, Geburtsregister usw. – sind von grossem historischem Interesse in Ergänzung zu Bodenfunden, Bildern und mündlichen Überlieferungen. Persönliche Briefe lassen darüber hinaus jenen einen Menschen erkennen, der zu Papier und Feder griff, mag er auch vor noch so langer Zeit gelebt haben. Der Brief bildet gleichsam eine Brücke zwischen ihm und dem heutigen Leser. Damit stellen Briefe ein einzigartiges und deshalb unersetzliches Kulturgut dar. Peter Belart pensionierter Lehrer und Journalist, befasst sich seit vier Jahrzehnten mit alten Briefen. Diese bilden die Grundlage für mehrere Bücher, die er über das Leben seiner Brugger Vorfahren herausgab. Belart ist in Brugg aufgewachsen und lebt in Schinznach-Dorf. 161
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