LITERATUR aus der Stadt, aus dem bevorzugten Geschäft von Bally, mit dessen Geschäftsführer man befreundet war! Kaum musste man hier, zwischen den Molassehügeln, leben, begann dieses ihr gemässe, städtische Herkommen auch schon zu «leiden», wurde schadhaft, zwang einen, die Stelle mit Schuhkrem zu vertuschen. Ich fand jedoch schnell heraus, dass ich den Klumpen Eis anstatt mit der Spitze, mit Sohle und Absatz treten musste, er sich dadurch genauer in die Richtung lenken liesse, in die ich gehen wollte und dabei die Schuhkappe schonte. So kickte ich den Eisklumpen vom Gasthof auf der alten Dorfstrasse an Wylers Viehhandlung vorbei zum Bäckerladen, dem gegenüber, hinter einer Reihe von Bäumen, die Turnhalle lag, wohin Vater mich zum Rektor der Schule gebracht hatte, und weiter bis zur Brücke vor. Ich blickte über das Geländer auf das schnelllaufende Wasser, das breit und flach, zwischen gemauerten Ufern aus der Ebene heranfloss, von den Steinen aufgerührt, unter der Brücke durch – und hinwegzog, an der Mauer eines herrschaftlichen Hauses und daran sich anschliessenden Fabrikgebäuden vorbei. Das Brückengeländer war so eisig, dass meine Handschuhe daran kleben blieben, und während ich die Eisenstange umklammerte, um durch die Schuhe aus der Stadt, aus dem bevorzugten Geschäft von Bally, mit dessen Geschäftsführer man befreundet war! Wärme der Hände die wollenen Fäustlinge wieder abzulösen, sah ich auf die am Ufer unter mir aufgestossenen Eisplatten. Sie türmten sich mit Kanten und Spitzen hoch, schichteten sich übereinander, bildeten Gebirgszüge. Einzelne waren leuchtend glasig, andere trüb, Schnee hatte Senken ausgefüllt, sich hinter Bruchlinien angehäuft. Und ich sah von hoch oben auf diese arktische Landschaft, wie ich sie von Aufnahmen in einem Buch her kannte. [...] Auch zur Schule stiess ich den Eisklumpen vor mir her, froh darüber, niemanden auf dem Weg beachten zu müssen, versteckte ihn hinter einer Mauer, um ihn nach dem Unterricht wieder hervorzuholen. Doch mit jedem Tag, den ich ihn vor mir herkickte, wurde er kleiner und runder, bis er durchsichtig war wie ein Kristall und auf dem Nachhauseweg an einem Mittag zersprang. [...] Meine Schulkameraden trugen im Gegensatz zu mir schwarze, genagelte Schuhe, einige sogar mit Holzsohlen, etwas, das ich noch nie gesehen hatte. «Holzböden» nannten sie die Dinger, die einen eigenen Klang auf dem geölten Parkett und den Granitstufen des Schulhauses erzeugten und auch das Gehen selbst hölzern machten. Sie hatten gegenüber den genagelten Schuhen dafür den Vorteil, auf den Schleifbahnen – einem Streifen Eis unter den Fensterreihen des Schulhauses, über den die Jungen nach einem Anlauf glitten, die Arme ausgestreckt – unschlagbare Längen zu schaffen. Ich stand in meinen Halbschuhen mit Gummisohlen abseits, lehnte an den Stamm einer Linde und sah zu wie die Jungen mit offen Mündern übers Eis glitten, einen Schal um den Hals geschlungen. Die Mutigsten und Kräftigsten brüllten, um die Bahn freizubekommen, schossen halb in der Hocke über die schwärzlich glänzende Fläche und fanden die Bewunderungen ihrer Mitschüler, wenn sie am Ende der Bahn ins Stolpern gerieten, oder gar nach einem Sprung sich überrollten, auf die Beine kamen und den Schnee von den Hosen klopften. Mit mutwilligen Augen schlurrten sie an der Schleifbahn entlang zurück zum Anlauf, gaben einem Zögerlichen, der stocksteif übers Eis geglitten kam, einen raschen Tritt in die Schuhabsätze, dass er hinfiel, zum Gaudi auch der Mädchen. Und ich dachte an den Pausenhof in B., bei dem Mädchen und Knaben durch eine Ziegelmauer getrennt waren, die Schüler ihre Milchflaschen tranken, die seit neuestem ausgegeben wurden, an einem Apfel kauten, den man sich aus einer Harasse nehmen durfte, und ich mit der blauen Pillendose aus der Zeit von Vaters Erblindung renommierte. Ich wollte so gerne eine Brille haben, wie Emanuel, ein dicklicher Junge, der bereits lesen konnte, und zeigte jedem das Döschen, behauptete, ich müsste Pillen gegen ein allmähliches Erblinden einnehmen – und schaute hier in S. den Jungen zu, wie sie den kleinen Posthaltersohn mit Schnee einrieben, die Trambahn mit Schneebällen bombardierten, beim Klingelzeichen als ein wüster Haufen zum Eingang drängten, um in das Schulzimmer zu stürmen, in dem ein Gelächter ausbrach, wenn ich antworten musste. Der Dialekt, den ich sprach, löste jedes Mal, wenn Fräulein Kleinert mich aufrief und ich aus der Bank treten musste, um zu antworten, eine gewaltige Heiterkeit aus, die sich in einem Fall, zu einem höhnischen Gebrüll steigerte, das Fräulein Kleinert auch mit dem Rohrstock nicht mehr zur Räson prügeln konnte. Das Wort «viel». An der Wandtafel stand mit Kreide das andere «fiel» geschrieben, stand in exakter Schulschrift da, und das Fräulein zeigte mit dem Stock auf das F, fragte, wie sich das andere klanggleiche Wort schreibe, das auf Fülle und mehrere Dinge verweise und nannte meinen Namen. Ich trat aus der Bank, sagte in meinem Dialekt und wie ich es in B. gelernt hatte, «viel» schreibe sich mit einem V wie bei Vögeln, mit einem «Vögel-V». Und ich sah in die mich umringenden Gesichter von Jungen und Mädchen, noch Noch keiner hatte sowas wie mit dem Vögeln und dem V bei Fräulein Kleinert gewagt. von der Kälte gerötet, aufgerissene Münder, schmale, glänzige Augen, hörte ihr Gelächter, in dem ein Enthemmtsein war, eine Derbheit auch, sah das Fräulein, dessen Züge sich von einer Hitze rötete, mit dem Stock auf die Pultplatte drosch, «Ruhe!» schrie – und wusste nicht, dass ich es eben geschafft hatte, auch mit Halbschuhen an den Füssen und einer Baskenmütze auf dem Kopf, von meinen Mitschülern angenommen zu werden. Noch keiner hatte sowas wie mit dem Vögeln und dem V bei Fräulein Kleinert gewagt. Bei dem Text handelt es sich um Auszüge aus dem dritten Band der Trilogie des Erinnerns: «Die besseren Zeiten», Luchterhand Literaturverlag, München 2005. Christian Haller, geboren am 28. Februar 1943 in Brugg, Aargau. Studium der Zoologie an der Universität Basel, Diplomabschluss. Sichtung und Verfilmung des Nachlasses von Adrien Turel (schweiz. Philosoph und Schriftsteller) im Auftrag von Kanton und Stadt Zürich. Acht Jahre Bereichsleiter der «Sozialen Studien» am Gottlieb Duttweiler-Institut in Rüschlikon/Zürich. Dramaturg am Theater «Claque» in Baden. 2015 wurde Christian Haller mit dem «Kunstpreis des Kantons Aargau» ausgezeichnet. Er lebt als Schriftsteller in Laufenburg, Schweiz. 20
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