FOKUS LINN
FOKUS LINN Nr. 5 – Jubiläumsausgabe Mai 2019
FOKUS LINN Nr. 5 – Jubiläumsausgabe Mai 2019
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KULTURERBE<br />
Das Kulturerbejahr im Aargau<br />
Interview zum Kulturerbe / Kulturerbejahr 2018 mit Dr. Thomas Pauli-Gabi,<br />
Leiter Abteilung Kultur, Kanton Aargau.<br />
Interview Ursula Kahi / <strong>FOKUS</strong> <strong>LINN</strong><br />
<strong>FOKUS</strong> <strong>LINN</strong>: Seit 1983 führt die Europäische<br />
Union «Europäische Jahre» zu einem<br />
bestimmten Thema durch. 2013/14<br />
zum Beispiel war das Europäische Jahr der<br />
Bürgerinnen und Bürger, 2015 jenes für<br />
Entwicklung und 2018 nun dasjenige des<br />
Kulturerbes. Was ist so wichtig am Kulturerbe,<br />
dass man ihm ein Europäisches<br />
Jahr widmet?<br />
Thomas Pauli: Unser kulturelles Erbe<br />
bedeutet Lebensqualität und Orientierung<br />
in einer sich schnell verändernden<br />
Welt und – nicht zu vergessen – bringen<br />
gut gepflegte Baudenkmäler und<br />
museale Sammlungen eine touristische<br />
Wertschöpfung. Der EU geht es vor<br />
allem um die identitätsstiftende Wirkung,<br />
die gemeinsame kulturelle Werte<br />
innerhalb einer heterogenen Staatengemeinschaft<br />
entfalten können. Dabei<br />
soll das Kulturerbejahr ein Aufruf sein,<br />
dass sich die Bevölkerung selber stärker<br />
für das Kulturerbe in ihrem Umfeld<br />
engagiert.<br />
Damit man sich für eine Sache engagieren<br />
kann, muss man diese zuerst einmal wahrnehmen<br />
und sich bis zu einem gewissen<br />
Grad auch damit identifizieren. Nun aber<br />
sind Wahrnehmung und Identifikation eng<br />
gekoppelt an die Konstanz der Namen.<br />
Sind die Namen von Bauwerken wie der<br />
Habsburg, dem Kloster Muri oder der<br />
Propstei Wislikofen ebenfalls Teil des Kulturerbes<br />
und damit geschützt, oder bezieht<br />
sich der Kulturerbeschutz nur auf das Bauwerk<br />
an und für sich?<br />
Historische Namen von Gebäuden sind<br />
Teil des kulturellen Erbes, aber nicht<br />
speziell geschützt. Durch ihren Gebrauch<br />
in der Umgangssprache gehören<br />
sie zu den lebendigen Traditionen.<br />
Kulturerbe, was verstehen Sie darunter?<br />
Kulturerbe ist grundsätzlich alles, was<br />
unsere Vorfahren materiell und geistig<br />
erschaffen haben und das aufgrund<br />
seiner Bedeutung bewahrt wurde oder<br />
auch zufällig die Zeiten überdauert<br />
hat, wie zum Beispiel archäologische<br />
Bodenfunde.<br />
Bei einer Erbschaft hat man in der Regel<br />
auf der einen Seite den Erblasser und auf<br />
der anderen den oder die Erben. Wie ist<br />
das beim Kulturerbe? Wer ist hier der Erblasser?<br />
Wer sind die Erben?<br />
Wir alle sind Erben und zwar von dem,<br />
was frühere Generationen geschaffen<br />
haben, zum Beispiel in der Architektur,<br />
der Musik, im Handwerk oder im<br />
Brauchtum. Genau diese Sichtweise,<br />
dass wir alle Teil einer grossen Erbengemeinschaft<br />
sind, will uns das Kulturerbejahr<br />
stärker ins Bewusstsein bringen.<br />
Nicht immer sind die Erben gewillt, ihr Erbe<br />
anzutreten. Oftmals ist es aus finanziellen<br />
Gründen sogar ratsam, das Erbe auszuschlagen.<br />
Wie sieht es mit der Gesundheit<br />
der kulturellen Erbmasse des Aargaus aus?<br />
Historische Namen von Gebäuden<br />
sind Teil des kulturellen<br />
Erbes, aber nicht speziell geschützt.<br />
Durch ihren Gebrauch<br />
in der Umgangssprache gehören<br />
sie zu den lebendigen<br />
Traditionen.<br />
Der Aargau verfügt über ein lebendiges<br />
Brauchtum in den Regionen und<br />
ein überaus reiches kulturelles Erbe,<br />
das zum Teil Jahrtausende zurückreicht.<br />
Von herausragender Bedeutung<br />
sind die Hinterlassenschaften der Römer,<br />
Habsburger und des Industriezeitalters,<br />
die eng mit der Geschichte der<br />
Schweiz und Europas verbunden sind.<br />
Im Spannungsfeld zwischen Tradition<br />
und modernen Trends wie Mobilität<br />
und Bevölkerungszunahme wächst bei<br />
vielen Menschen das Bewusstsein für<br />
den Wert der kulturellen Leistungen<br />
früherer Generationen. In einer nationalen<br />
Umfrage vor zwei Jahren ist diese<br />
Einschätzung sehr deutlich zum Ausdruck<br />
gekommen.<br />
Was unternimmt die Politik, damit die<br />
(künftigen) Erben sowohl gewillt als auch<br />
in der Lage sind, das ihnen hinterlassene<br />
Kulturerbe dereinst angemessen zu pflegen<br />
und zu erhalten?<br />
Seit 2010 verfügt der Aargau über ein<br />
zeitgemässes und griffiges Kulturgesetz,<br />
das dem Kanton für die Pflege<br />
des bedeutenden Kulturerbes wichtige<br />
Aufgaben überträgt, wie zum Beispiel<br />
der Unterhalt einer historischen Sammlung<br />
mit Zeugnissen aus mehr als 1000<br />
Jahren Geschichte, die Durchführung<br />
archäologischer Rettungsgrabungen<br />
und die finanzielle Unterstützung von<br />
Eigentümern denkmalgeschützter Gebäude.<br />
Und auch die Vermittlung der<br />
Kulturgüter gehört zu den gesetzlichen<br />
Aufgaben, damit die Bevölkerung<br />
am historischen Wissenszuwachs teilhaben<br />
kann.<br />
In Rheinfelden wurde wegen einer Überbauung<br />
vor wenigen Wochen der 40 Meter<br />
hohe Kamin des ehemaligen Furnierwerks<br />
gesprengt. «Wo Neues entsteht<br />
muss Altes weichen», sagte die Vertreterin<br />
der Bauherrschaft zum Ende des 94jährigen<br />
Industrialisierungs-Zeitzeugen. Wie<br />
beurteilen Sie das Verhältnis zwischen alt<br />
und neu? Hat das Alte in der heutigen Zeit<br />
überhaupt noch eine Existenzberechtigung?<br />
Warum ist das Alte überhaupt<br />
schützens- und pflegenswert?<br />
Was erhalten bleiben soll, unterliegt<br />
einem stetigen Aushandlungsprozess<br />
und zwar nicht nur in der Politik sondern<br />
auch in der Gesellschaft und in<br />
der Fachwelt. Genau dieses «Warum»<br />
will das Kulturerbejahr zur Diskussion<br />
stellen. Dies unter dem Eindruck, dass<br />
kulturelle Traditionen und die Baukultur<br />
in den Gemeinden und Regionen<br />
zunehmend unter Druck geraten.<br />
Also muss man jetzt, und nicht erst<br />
wenn schon alles weg ist, darüber diskutieren,<br />
was uns die Geschichte vor<br />
Ort und die gelebten Traditionen für<br />
die Lebensqualität und den gesellschaftlichen<br />
Zusammenhalt wert<br />
sind.<br />
Wer entscheidet, was als erhaltenswert<br />
gilt?<br />
Bei Gebäuden sind es in der Regel Private<br />
oder der Heimatschutz, die beim<br />
Kanton ein Gesuch stellen für eine<br />
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