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Berliner Zeitung 17.08.2019

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2 17./18. AUGUST 2019<br />

Liebe<br />

Grüße<br />

nach<br />

Moskau<br />

Kurz vor dem Fall der Mauer:Am4.November 1989 protestieren Menschen am Alexanderplatz für mehr Freiheit.<br />

IMAGO IMAGES<br />

Als ich im Juli 1989 mit einigen Kommilitonen<br />

nach Moskau reiste,<br />

schien dies eine Fahrtins Glück zu<br />

sein. Wir studierten Journalistik in<br />

Leipzig und fürchteten uns vor der Praxis.<br />

<strong>Zeitung</strong>en und Rundfunk in der DDR wurden<br />

von der Abteilung Agitation und Propaganda<br />

des ZK der SED angeleitet und gegängelt.<br />

DieDozenten an der Universität lehrten<br />

zwar manches nützliche Handwerkszeug, sie<br />

waren aber vorallem angehalten, uns Parteilichkeit<br />

mit der Sache des Sozialismus zu vermitteln.<br />

In der Sowjetunion hatte Michail<br />

Gorbatschow mit Glasnost (Offenheit) und<br />

Perestroika (Umbau) eine Demokratisierung<br />

der Gesellschaft beschlossen, was die DDR-<br />

Führung zu ignorieren versuchte. Ich hatte<br />

mir ein Diplomarbeitsthema in diesem<br />

Sinne gesucht: „Die Rolle von Schriftstellern<br />

bei der Diskussion gesellschaftlicher Fragen.“<br />

Undich war dann kaum in der Fakultät<br />

für Journalistik, dafür oft in der Redaktion<br />

der Literaturnaja Gaseta und viel in der Stadt<br />

und im Land unterwegs. Nachts schrieb ich<br />

Briefe nach Hause. Meine Eltern, mein Bruder<br />

und viele Freunde antworteten rege.<br />

Noch heute bin ich dankbar, wie viel Zeit<br />

sie sich alle zum Schreiben nahmen. Ihre<br />

Briefe sind wie ein Tagebuch der Wende.<br />

Vor allem meine Mutter und mein Bruder<br />

versorgten mich auch mit allen Mangelwaren<br />

vom Teebis zum Toilettenpapier. Hier<br />

dokumentiere ich – mit ihrem Einverständnis<br />

–Auszüge aus Briefen meiner Eltern.<br />

Siewaren damals schon getrennt und<br />

lebten mit neuen Partnern zusammen.<br />

Meine Mutter Ingrid Becker war Redakteurin<br />

bei Radio DDR und musste bei Live-<br />

Sendungen drauf achten, in Ungnade gefallene<br />

Personen oder Tabu-Themen nicht<br />

zu erwähnen. Mein Vater Erhard Geißler<br />

arbeitete als Genetikprofessor am Zentralinstitut<br />

für Molekularbiologie der Akademie<br />

der Wissenschaften.<br />

Als ich die DDR verließ, standen vor der<br />

Nikolaikirche in Leipzig schon Mannschaftswagen<br />

der Polizei. Im Sommer verließen<br />

Tausende Menschen über Ungarn und die<br />

Botschaften Prags und Warschaus die DDR.<br />

28.9.1989, INGRID BECKER<br />

Die wirklich vielen Ungarn-Flüchtlinge<br />

treibt es nicht aus einem großen „Deutschgefühl“<br />

in die BRD, sondern weil sie dort<br />

gleich mit Pass als Staatsbürger begrüßt werden<br />

und woanders ein langwieriges Einbürgerungsverfahren<br />

durchstehen müssen (...)<br />

Aber dass in der Charité ganzeStationen geschlossen<br />

werden müssen, dass die Situation<br />

im Kraftverkehr auf kleinen Dörfernund Orten<br />

katastrophal ist, weil Busfahrer fehlen<br />

und der Berufsverkehr nicht mehr abgesichert<br />

ist, dass in einem Kreiskrankenhaus<br />

ein Arzt Mädchen für alles spielt, dass aus einem<br />

Ortsämtliche Bäcker wegsind, das alles<br />

finde ich schlimm für die Menschen, die hier<br />

damit leben müssen. Und Weglaufen war<br />

noch nie eine Lösung, das meine ich. Obwohl<br />

ich einzelne Fälle bestimmt verstehe,<br />

das ist was Anderes. Nur wenn der einzige<br />

Tischler der AWG (Arbeiter-Wohnungsbaugenossenschaft<br />

–C.G.) auch noch wegist, dann<br />

kotzt mich das an, weil mein Fenster undicht<br />

ist. Außerdem freuen sich die BRD-Bürger<br />

über die vielen Jungen, die für ihreRente das<br />

Arbeitsvolumen bewältigen, in 20 oder 25<br />

Jahren. Undwas wirdmit unserer Rente?Wer<br />

arbeitet bei uns?<br />

27.10.1989, ERHARD GEISSLER<br />

VordreiWochen habe ich Dich etwas beneidet,<br />

dass Du in dieser aufregenden Zeit vor<br />

Ort, nämlich in Moskau sein kannst. Jetzt<br />

sind wir hier zu beneiden (und zu bedauern,<br />

dass man abends nicht mehr zum Arbeiten<br />

kommt, weil man fernsehen muss und <strong>Zeitung</strong><br />

lesen).<br />

Vorgestern zum Beispiel strahlte Elf99<br />

(das Jugendprogramm des DDR-Fernsehens –<br />

C. G.) einen Ausschnitt aus der Podiumsdiskussion<br />

aus, die im Haus der jungen Talente<br />

stattfand, und an der Stefan Heym, Christoph<br />

Hein, zwei Philosophie-Professoren der<br />

Humboldt-Uni, ein Sekretär des FDJ-Zentralrats,<br />

stellvertretender Kulturminister<br />

Hartmut König, Gisela Steineckertsowie Bärbel<br />

Bohley und Prof. Jens Reich vom„Neuen<br />

Forum“ teilnahmen –und gar nicht so kontrovers<br />

diskutierten. Achso: MarkusWolf war<br />

auch auf dem Podium und saß, wenn ich’s<br />

recht erinnere, direkt neben Bärbel Bohley.<br />

Noch vorzwei, drei Wochen in den kühnsten<br />

Träumen nicht vorstellbar! Am gleichen<br />

Abend gab es in den ARD-Tagesthemen eine<br />

Live-Schaltung nach Adlershof, wo Günter<br />

Schabowski interviewt wurde (…)<br />

Gestern rief Helmut Kohl Egon Krenz an.<br />

In der BRD berichtete der Regierungssprecher<br />

darüber. Bei uns trat Egon Krenz selbst<br />

vordie Fernsehkameraund informierte ausführlich.<br />

31.10.1989, INGRID BECKER<br />

Am Wochenende ist im Kulturbund der jahrzehntelang<br />

verbotene Film „Spur der Steine“<br />

von Frank Beyer aufgeführt worden. Mise<br />

(ein Kollege von ihr –C.G.) war dort und<br />

schilderte seine große Bewegung, weil der<br />

Film so war, als hätte man ihn gestern gedreht.<br />

Stefan Heym kam kurz vorbei, weil<br />

er einen anderen Termin hatte und sagte,<br />

er wolle Frank Beyer nur sagen, wie sehr er<br />

sich freue, dass nun endlich mit dem<br />

Schweigen um diesen Film Schluss sei.<br />

Unser VdJ (Verband der Journalisten –C.<br />

G.) hat –vielleicht nicht so extrem deutlich<br />

wie der Verband der Film- und Fernsehschaffenden<br />

und lange nicht so exponiert<br />

wie das Pen-Zentrum – aber immerhin<br />

deutlich öffentlich seine Meinung zur Bevormundung<br />

und Zensur gesagt und einen<br />

demokratischen Medienrat verlangt. Das<br />

wirst Du gelesen haben (...)<br />

Außerdem gehe ich am Sonntag zu dem<br />

zweiten Rathausgespräch, und wenn ich<br />

rankomme,werde ich auch etwas sagen. Es<br />

soll nicht einfach sein, denn dort stehen 3<br />

oder 4Mikros und davor lange Schlangen<br />

von Menschen, die sich artikulieren<br />

wollen. Natürlich finde ich das bloße<br />

Gemecker und Ablassen persönlichen<br />

Frustes auch schlimm, die Leute reden<br />

auch dauernd im Kreise. Aber es ist wohl<br />

so, wenn man jahrzehntelang schweigen<br />

musste, dass sich viel angestaut hat. Und<br />

wer das Gefühl hat: Jetzt habe ich meine<br />

Meinung und meine Erfahrungen an die<br />

richtige Adresse gebracht, der fühlt sich erleichtert.<br />

5.11.1989, ERHARD GEISSLER<br />

Eben kamen wir aus Magdeburgund fanden<br />

Deine Post vom 25.10. vor: besten Dank (…)<br />

Heute Vormittag waren wir u.a. im Magdeburger<br />

Dom. Dortwaren mehrereTafeln mit<br />

Aufrufen, Kommentaren etc.aufgestellt, u.a.<br />

einem langen Text vonder SDP sowie vonder<br />

Böhlener Gruppe. Viele Autos in M. haben<br />

grüne Bänder an den Antennen, oder Leute<br />

haben grüne Bänder angesteckt: Wirbleiben<br />

hier und sind hoffnungsvoll (...)<br />

Aber trotzdem verlassen die Menschen,<br />

leider vorwiegend junge, immer noch in<br />

Erhard Geißler,<br />

Jahrgang 1930,<br />

Genetikprofessor am<br />

Zentralinstitut für<br />

Molekularbiologie der<br />

Akademie der Wissenschaften,<br />

wurde nach<br />

der Wende am Max-<br />

Delbrück-Centrum für<br />

Molekulare Medizin in<br />

Berlin-Buch übernommen<br />

und leitete dann die<br />

Forschungsgruppe<br />

Bioethik. Seit 2000<br />

arbeitet er dortnoch als<br />

Gastwissenschaftler.<br />

Scharen das Land: Offenbar haben sie das<br />

Vertrauen ganz verloren. Du fragtest in Deinem<br />

vorangegangenen Brief vom 18.<br />

„warum gerade jetzt“ die Änderungen im Politbüro?<br />

Und warum gerade Krenz? Dass die<br />

Änderungen jetzt erfolgten (und hoffentlich<br />

nicht zu spät) ist ganz sicher vorallem auf die<br />

Ausreisewelle zurückzuführen und auf die<br />

vielen Demonstrationen. Undich habe gute<br />

Informationen, dass sich gerade Krenz sowohl<br />

dafür eingesetzt haben soll, dass vor<br />

drei Wochen in Leipzig etc. nicht sehr viel<br />

schärfer gegen die Demonstranten vorgegangen<br />

worden ist, und dass er es wohl war,<br />

der es schaffte, seinen verkrusteten, psychisch<br />

wohl geradezu gelähmten Vorgänger<br />

aus dem Amt zu drängen.<br />

Dabei war er wohl auf die anderen alten<br />

Herren angewiesen (sodass zunächst nur die<br />

wichtigsten Korrekturen dadurch eingeleitet<br />

werden konnten, dass Hermann und Mittag<br />

gehen mussten), aber die sind ja mittlerweile<br />

auch weg vom Fenster. Essind wirklich aufregende<br />

Zeiten, und ich teile die Sorgevieler<br />

Menschen hier nicht, dass es vielleicht noch<br />

einmal eine Rück-Wende geben könnte:<br />

Dazu ist viel zu viel in Gang gekommen, und<br />

hier in Mitteleuropa, an der Nahtstelle<br />

zweier Militärblöcke, kann man die Probleme<br />

nicht so lösen wie vor einigen Monaten<br />

in Beijing.<br />

7.11. 1989, INGRID BECKER<br />

Eigentlich bin ich doll erkältet und will<br />

schnell ins Bett. Nun habe ich mir aber<br />

doch die Fernsehdiskussion bei uns im I.<br />

angesehen: „Warum wollt Ihr gehen?“. Das<br />

hat mich etwas belebt, denn die Vertreter<br />

der DBD, der NDPD, der LDPD und der<br />

CDU haben sehr konstruktiv und deutlich<br />

gesprochen, warum die Leute gehen und<br />

warum sie immer noch gehen. 200 in einer<br />

Stunde über die Grenze der CSSR und<br />

24Tausend, seit die Grenze wieder auf ist.<br />

Leider war der Vertreter der SED ein Ersatz-<br />

Betonkopf, und die sind bekanntlich noch<br />

schlechter als die echten Betonköpfe.<br />

Nun ist heute die Regierung zurückgetreten,<br />

das Präsidium der Volkskammer<br />

wird folgen. Die Massenflucht geht trotzdem<br />

weiter, obgleich die BRD-Medien anfangen<br />

furchtbar zu stöhnen, sie wissen<br />

nicht mehr, wohin sie die Leute stapeln<br />

sollen. In meinen Kollegen-Kreisen vermutet<br />

man, dass etwa ein Zehntel der Bevölkerung<br />

gehen könnte, aber mindestens<br />

eine Million. Überall werden schon Leute<br />

umgesetzt, weil Arbeit getan werden muss.<br />

Es kommt der Winter, und das wird Probleme<br />

geben.<br />

Die Menschen fordern unüberhörbar<br />

freie Wahlen, täglich. Trotz aller möglichen<br />

Rücktritte und Ankündigungen von Maßnahmen<br />

verzichten sie nicht auf diese Forderung,<br />

und die SED wird wohl darauf hören<br />

müssen. Sicher bekommt sie nicht mal<br />

so viel Stimmen wie sie Mitglieder hat, d.h.<br />

keine Partei wirddie Mehrheit haben.<br />

Gestern hatten wir Belegschaftsversammlung.<br />

Es wurden Wahrheiten ausgekippt,<br />

die einem die Haare zuBerge stehen<br />

lassen. Da geht es dann immer wieder<br />

um die nicht wahrgenommene Verantwortung<br />

des Intendanten, um seine Drohungen,<br />

falschen Entscheidungen und seinen<br />

Dogmatismus. Aber der Mann ist über<br />

65 und senil, er hat es nicht begriffen und geweint!<br />

Ertritt nicht zurück, weil seine Partei<br />

ihn noch auf diesem Stuhl haben will.<br />

Aber die das wollen, sind auch so gut<br />

wie weg. DerMann –also mein Intendant –<br />

tat mir dann so leid, dass ich gegangen bin.<br />

Danach saßen noch die Genossen und haben<br />

die zentrale Parteileitung abgesetzt.<br />

Aber plötzlich war es einer, der die ganze<br />

Rundfunk-Verdummerei angefangen hat<br />

bei Radio DDR, und der wird verantwortlich<br />

gemacht. Die anderen halten sich<br />

schön bedeckt, weil sie in aller Stille nach<br />

dem Intendanten-Sessel greifen. Also wieder<br />

die Ersatz-Betonköpfe.<br />

8.11.1989, ERHARD GEISSLER<br />

Wasuns bewegt, wirst Du auch schon wissen:<br />

gestern Ministerrat zurückgetreten,<br />

heute früh Politbüro zurückgetreten, Mittag<br />

neues Politbüro gewählt und Modrow<br />

zum Ministerpräsidenten vorgeschlagen.<br />

Klaus Höpcke ist neuer Kulturchef, Gregor<br />

Schirmer neuer Wissenschaftsleiter. Die<br />

Ingrid Becker,<br />

Jahrgang 1935,<br />

Redakteurin und<br />

Moderatorin für<br />

verschiedene Redaktionen<br />

von Radio DDR.<br />

1991 im Zuge der<br />

Abwicklung des Senders<br />

in den Vorruhestand<br />

geschickt, arbeitete sie<br />

ab 1993 als freie<br />

Mitarbeiterin beim<br />

Mitteldeutschen<br />

Rundfunk.<br />

PRIVAT (2)<br />

IG Bau-Steine-Erden hat für 1990 neue<br />

Wahlen gefordert, verschiedene Gremien<br />

wollen erneut die Ergebnisse der letzten<br />

Wahlen überprüfen. Laut ADN soll auch<br />

„Neues Forum“ zugelassen werden.<br />

Toll, toll, toll. Gestern Abend las Stefan<br />

Heym im DDR-Fernsehen (das erste Mal<br />

seit 35 Jahren) „Märchen für Erwachsene“.<br />

Es ist alles wie im Märchen, nein, wie im<br />

Traum: Wiewerden wir aufwachen?<br />

10.11.1989, ERHARD GEISSLER<br />

21.10 Uhr<br />

Vielen herzlichen Dank für Deinen<br />

Brief vom 8. Die Ereignisse haben ihn<br />

schon wieder völlig überholt –Einzelheiten<br />

brauche ich Dir nicht aufzuzählen. Im<br />

Moment sitze ich vorm Fernseher, schon<br />

die 2. Videokassette zeichnet für Dich auf,<br />

und ich will Dir schnell von einem der<br />

wichtigsten Tage der deutschen Nachkriegsgeschichte<br />

einen kurzen Erlebnisbericht<br />

senden.<br />

GesternSpätnachmittag sah ich wieder<br />

mit großem Interesse Schabowskis Pressekonferenz<br />

über den Verlauf des 2. Tags<br />

des ZK-Plenums (Eben sagt der Moderator,<br />

ein Zuschauer habe gesagt, von der<br />

Ostberliner Seite aus wird die Bernauer<br />

Str. mit Baggern eingerissen –alles ist un-

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