2/2009 - BRAK-Mitteilungen
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50 Aufsätze <strong>BRAK</strong>-Mitt. 2/<strong>2009</strong><br />
Hellwig, Berufsrechtliche Fragen bei grenzüberschreitender Tätigkeit und Kooperation in Europa<br />
Berufsrechtliche Fragen bei grenzüberschreitender Tätigkeit und Kooperation<br />
in Europa<br />
I. Einleitung<br />
Rechtsanwalt und Notar Prof. Dr. Hans-Jürgen Hellwig, Frankfurt am Main *<br />
Ein Rechtsanwalt ist nicht nur dann grenzüberschreitend tätig,<br />
wenn er zum Beratungsgespräch, zu Vertragsverhandlungen<br />
oder zu einem Gerichtstermin in ein anderes Land reist oder<br />
wenn er in einem anderen Land eine Niederlassung oder gar<br />
seine Hauptkanzlei errichtet. Grenzüberschreitende Tätigkeit<br />
liegt schondannvor, wenn er vonseiner deutschen Kanzlei aus<br />
mit dem Mandanten oder dem Gegner bzw. dessen Anwalt im<br />
Ausland korrespondiert oder auch nur telefoniert, ja sogar<br />
dann, wenn ihn der ausländische Mandant in seiner deutschen<br />
Kanzlei zum Beratungsgespräch aufsucht. Auch der Begriff der<br />
Kooperationüber die Grenze ist ein weiter Begriff. Er reicht von<br />
der Zusammenarbeit im Einzelmandat bis hin zur Verbindung<br />
zur gemeinsamen Berufsausübung mit ausländischen Anwälten<br />
(einschließlich Anstellungsverhältnissen und freien Mitarbeitsverhältnissen),<br />
wobei die Kanzlei, inder der deutsche Anwalt<br />
tätig ist, im Inland oder im Ausland liegen kann.<br />
Rechtlicher Ausgangspunkt bei der grenzüberschreitenden Tätigkeit<br />
und Kooperation ist die Unterscheidung zwischen Personalstatut<br />
und Wirkungsstatut. Ein deutscher Rechtsanwalt, der<br />
grenzüberschreitend in Frankreich tätig ist, unterliegt bei isolierter<br />
Betrachtung dem deutschen Personalstatut, d.h. seine<br />
berufsrechtlichen Rechte und Pflichten richten sich nach deutschem<br />
Recht. Weil die Wirkungen seiner Tätigkeit inFrankreich<br />
liegen, unterliegt seine Tätigkeit bei isolierter Betrachtung<br />
auch dem französischen Wirkungsstatut und damit dem französischen<br />
Berufsrecht. Für einen in Deutschland tätigen französischen<br />
Avocat gilt umgekehrt dasselbe.<br />
Die einzelnen nationalen Berufsrechte inEuropa sind weder<br />
durch die Dienstleistungsrichtlinie für Rechtsanwälte von 1977<br />
noch durch die Niederlassungsrichtlinie für Rechtsanwälte von<br />
1998 harmonisiert worden. Diese Richtlinien haben harmonisiert,<br />
welche Tätigkeiten ein Anwalt bei seiner vorübergehenden<br />
oder niedergelassenen grenzüberschreitenden Tätigkeit<br />
ausüben darf. Er darf –und zwar unter seiner heimatlichen Berufsbezeichnung<br />
–imHeimatrecht, imRecht des Ziellandes,<br />
im Recht dritter Länder und im Europarecht beraten und vor<br />
Gericht und Behörden auftreten. Er hat damit grundsätzlich<br />
dieselben Tätigkeitsbefugnisse wie ein örtlicher Anwalt des<br />
ausländischen Ziellandes. Die Mitgliedstaaten können dabei<br />
vorsehen, dass der Anwalt vor ausländischen Gerichten mit einem<br />
sog. Einvernehmensanwalt vor Ort zusammenarbeiten<br />
muss. §28 EuRAG hat von dieser Option für vorübergehend in<br />
Deutschland tätige europäische Rechtsanwälte Gebrauch gemacht.<br />
Beide Richtlinien harmonisieren nicht die Berufsrechte und Berufspflichten,<br />
die zur Anwendung kommen, wenn ein Anwalt<br />
in der genannten Weise vorübergehend oder niedergelassen<br />
grenzüberschreitend tätig ist. Beide Richtlinien sagen vielmehr<br />
ausdrücklich, dass insoweit die Berufsrechte von Herkunftsland<br />
*Referat gehalten auf dem Europäischen Anwaltsforum vom 22. bis<br />
24. Oktober 2008 in Köln.<br />
und Zielland nebeneinander zur Anwendung kommen können.<br />
1 Das gilt auch für das Disziplinarrecht. 2<br />
Auch die Berufsordnung (Code of Conduct) des Rats der Europäischen<br />
Anwaltschaften (CCBE), die über §29BORA Eingang<br />
in die deutsche Berufsordnung für Rechtsanwälte gefunden hat,<br />
enthält keine Harmonisierung. Diese Berufsordnung geht vielmehr<br />
ausdrücklich von der Geltung beider Berufsrechte nebeneinander<br />
aus und sucht die sich daraus für die grenzüberschreitende<br />
Tätigkeit ergebenden Schwierigkeiten zuerleichtern. 3<br />
Kollisionsnormen, wie wir sie etwa im Internationalen Privatrecht<br />
kennen, mit denen geregelt würde, in welchen Fällen nur<br />
das Berufsrecht des Herkunftslandes oder das Berufsrecht des<br />
Ziellandes zur Anwendung kommt, gibt es auf europäischer<br />
Ebene nicht. Auf nationaler Ebene gibt es praktisch keine<br />
schriftlichen Kollisionsnormen, Gerichtsentscheidungen fehlen<br />
praktisch völlig und die inder Literatur vertretenen Auffassungen<br />
sind schon für den jeweiligen einzelnen Mitgliedstaat so<br />
unterschiedlich, dass von einer gesicherten Antwort auf die<br />
Kollisionsfrage nicht gesprochen werden kann. 4 Erst recht gilt<br />
dies, wenn man bedenkt, dass die Kollisionsfrage nicht nur für<br />
ein einzelnes Land beantwortet werden muss, sondern für alle<br />
Länder, die bei der grenzüberschreitenden Tätigkeit bzw. Kooperation<br />
angesprochen sind.<br />
Die Konsequenz aus dem bisher Gesagten ist, dass der grenzüberschreitend<br />
tätige oder kooperierende Anwalt inder Praxis<br />
nicht davon ausgehen kann, dass eines der beiden Berufsrechte,<br />
das seines Herkunftslandes oder das des Ziellandes, nicht<br />
zur Anwendung gelangt. Folglich muss der Anwalt vorsichtshalber<br />
beide Berufsrechte beachten. Für die Praxis bedeutet<br />
dies, dass der Anwalt im konkreten Fall das jeweils strengere<br />
Berufsrecht einhalten muss.<br />
Dieses Phänomen der nebeneinander geltenden Berufsrechte<br />
wird vom EuGH als „Kumulierung der zu beachtenden Berufsund<br />
Standesregeln“ 5 und in der berufsrechtspolitischen Diskussion<br />
in der International Bar Association (IBA) als „Double Deontology“<br />
bezeichnet.<br />
Dabei sind zwei Hauptfallgruppen zu unterscheiden. Die eine<br />
sind die divergierenden Berufsrechte –dort gibt es zwischen<br />
den Berufsrechten der einzelnen Länder bei Übereinstimmung<br />
im Grundsatz in Einzelfragen mehr oder minder große Unterschiede,<br />
meist bedingt durch die historische Entwicklung und<br />
1Art. 4 Abs. 1und 2Dienstleistungsrichtlinie, wobei Abs. 3für die<br />
Beratungstätigkeit – im Gegensatz zur Tätigkeit vor Gericht und<br />
Behörden – die Geltung des Ziellandrechts auf bestimmte Regelungsfelder<br />
beschränkt. Ferner ohne diese Einschränkung Art. 6Niederlassungsrichtlinie.<br />
2Art. 7.2 Dienstleistungsrichtlinie und Art. 7Niederlassungsrichtlinie.<br />
3Nr. 1.1 und Nr. 1.3.1 der Berufsordnung des CCBE. Dort wird ausdrücklich<br />
von der „konkurrierenden Anwendung mehrerer Berufsrechte“<br />
gesprochen.<br />
4Eine ausführliche Übersicht über die Antworten im deutschen Recht<br />
auf die genannte Kollisionsfrage findet sich bei Knöfel, Grundfragen<br />
der internationalen Berufsausübung von Rechtsanwälten, 2005,<br />
442 ff., insbesondere 457 ff.<br />
5EuGHE 2000, I-9131, I-9175 Rdnr. 43.