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lyrics & Co<br />
74<br />
Das Meer<br />
Die Möwen schrieen grell in den sanften Sommerwind.<br />
Enno blinzelte in die untergehende<br />
Sonne, deren Konturen von den Nordseewellen<br />
verzerrt wurden. Er lehnte sich zurück.<br />
Norderney. Seine Eltern hatten ihn schon <strong>als</strong><br />
vier Monate alten Säugling das erste Mal hierher<br />
mitgenommen. Seitdem verbrachte er regelmäßig<br />
den Großteil seiner Sommerferien auf der<br />
schönsten aller ostfriesischen Inseln. Manchmal<br />
waren sie auch in den Winterferien hierher<br />
gefahren. In der kalten Jahreszeit beherrschte<br />
eine andere Atmosphäre die Insel. Es war viel<br />
ruhiger, weniger Touristen stromerten durch die<br />
Gegend, die Tage schienen langsamer zu vergehen.<br />
Die Natur war rauer. Das Meer meist aufgepeitscht,<br />
die Wellen bedeckt von Gischtkronen,<br />
der eiskalte Wind stach wie tausend Nadeln im<br />
Gesicht. Einen Winter hatten sie sich Fahrräder<br />
geliehen und waren auf dem Deich in Richtung<br />
Leuchtturm gefahren. Am Hafen gaben sie den<br />
Plan auf. Zu heftig schlug ihnen der im Sommer<br />
so sanfte Zephir entgegen, jetzt mit voller Härte<br />
und Eiseskälte. Die Augen tränten, die Wangen<br />
waren taub. Das wäre auszuhalten gewesen,<br />
aber der Gegenwind ließ sie einfach nicht vorankommen.<br />
Um so geschmackvoller war der<br />
schöne heiße Ostfriesentee, den sie im Hotel<br />
zu sich nahmen. Schön war es, zu spüren, wie<br />
die Kälte aus dem Gesicht und aus den Füßen<br />
wich, dabei aus dem Fenster in den sich verdunkelnden<br />
Tag blickend, durch das geschlossene<br />
Fenster das gleichmäßige Rauschen des Meeres<br />
hörend. Das Meeresrauschen,<br />
wie der<br />
Atem der Welt, der Anhauch des Ewigen. Eine<br />
Bekannte von ihnen buchte an der Nordsee stets<br />
Zimmer mit Hinterhofblick, weil sie das Rauschen<br />
nervös machte und ihr den Schlaf raubte.<br />
Für Enno und seine Familie schien dies kaum<br />
vorstellbar. Das beruhigende, wie ein Mantra<br />
immergleich währende, natürliche Wispern<br />
des Ozeans sollte nervös machen? Enno lernte<br />
dadurch eine vielleicht banale Lektion: Jeder<br />
Mensch betrachtet das Meer anders, nicht jeder<br />
schätzt es auf die gleiche Weise. Nicht jeder<br />
liebte es so sehr wie Enno. Auch Enno liebte es<br />
auf seine Weise anders. Er liebte das Geräusch,<br />
den Anblick, aber er musste nicht den ganzen<br />
Tag im Meer herumschwimmen. Er genoss es,<br />
ab und zu mal schwimmen zu gehen. Er mochte<br />
das Gefühl, das sich einstellte, wenn er der<br />
Kälte getrotzt hatte. Die Nordsee blieb immer<br />
kalt, auch im heißesten Sommer. Zunächst<br />
nahm die Kälte einem den Atem, wenn man<br />
die ersten Züge schwamm. Dann spürte man,<br />
wie das Wasser immer wärmer wurde. Die Strömung<br />
brachte kuriose Phänomene zustande.<br />
Manche Abschnitte des Wassers, nicht genau<br />
abgrenzbar, oft nur ein bis zwei Schwimmzüge<br />
breit, blieben kalt, andere dagegen wirkten<br />
überraschend warm. Ein Geräusch, das er stets<br />
mit dem Nordseebaden verband, war der tiefe<br />
Hornstoß der Rettungsschwimmer, die von<br />
ihren metallenen Hochstühlen die Badenden<br />
schützend überblickten und diejenigen Badegäste<br />
mit dem Hornstoß zurückpfiffen, die sich<br />
zu weit hinauswagten. Die meisten Touristen<br />
unterschätzten die Kraft des Meeres und überschätzten<br />
ihre eigenen Kräfte. Die Strömungen<br />
an Norderneys Stränden zeigten sich nie durch<br />
Wirbel irgendeiner Art, sondern zogen einfach<br />
kräftig an Stellen, an denen man es nicht erwartete.<br />
Als Kind hatte Enno die Ermahnungen<br />
seiner Eltern auch nicht ernst genommen und<br />
die Strömungen <strong>als</strong> Hirngespinste abgetan. Je<br />
älter er wurde, je größer er wurde, um so weiter<br />
wagte er sich in die Wellen. Je weiter man<br />
rausschwamm, desto stärker merkte man die<br />
Strömung. Enno gewann Respekt vor dem Meer,<br />
begann die Kraft zu ahnen, die er nie herausfordern<br />
wollte. Warum auch? Warum soll man<br />
sich Kraft oder Rechte anmaßen, die man nicht<br />
hat? Warum nicht das Wirken der ewigen Gesetzmäßigkeiten<br />
akzeptieren? Die lassen genug<br />
Raum, um sich zu entfalten.<br />
Er liebte das Meer, musste aber nicht den ganzen<br />
Tag in ihm verbringen. Mehr <strong>als</strong> das Schwimmen<br />
schätzte er das Windsurfen. Zum Element<br />
des Wassers kam der Wind hinzu. Zwei Naturgewalten<br />
in einem, deren Kraft man nutzen<br />
konnte. So wie Surfen stellte sich Enno Meditation<br />
vor. Er hatte noch nie bewusst meditiert, nie