Stadtstreicher 06-08.2023
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Fotos: Nasser Hashemi, privat<br />
DER KONZERT-<br />
MEISTER<br />
Von der überheblichen Dummheit des<br />
Regietheaters: »Der Freischütz«<br />
Ja, denn Dummheit ist dabei immer das<br />
Eine: wie da Abziehbilder als Figuren, Klischees<br />
und Versatzstücke als Handlung und<br />
schließlich zum Steinerweichen standardisiertes<br />
Gerede als Dialog verkauft werden. Kurz:<br />
wie da Regisseur oder Regisseuse eine Soap abliefern<br />
statt des Werks, das sie aufführen sollen; und<br />
noch diese Soap auf einem so erbärmlichen Niveau,<br />
dass es selbst den Machern von »Sturm der<br />
BÜHNE<br />
Liebe« die Schamesfarbe Roter Rosen ins Gesicht<br />
treiben würde. Da wird das Stück regelmäßig in<br />
die Gegenwart »verlegt« – und dabei so gründlich<br />
in irgendeine Schublade verlegt, dass bei seiner<br />
Aufführung rein gar nichts mehr von ihm zu finden<br />
ist. Und in die Gegenwart wird es deshalb verlegt,<br />
weil es nach dem Willen der Regie-renden auf der<br />
Bühne einfach nichts geben darf, was aus einer anderen<br />
Zeit stammt, nichts, was von anderen Ver-<br />
hältnissen als den unseren erzählt, und nichts, was<br />
überhaupt erzählt, also etwas erschafft, was wir<br />
nicht gewohnheitsmäßig kennen. Statt eben dem<br />
zur Wirklichkeit zu verhelfen, was Theater ausmacht,<br />
verpflichten sie uns auf Dummheiten, mit<br />
denen sie unsere Wirklichkeit zur Soap verkürzen.<br />
Das geht bei dem jetzt neu aufgelegten Chemnitzer<br />
»Freischütz« so: Statt Wald und Teufel, Flur<br />
und Försterei – ein Bauunternehmen; wobei die<br />
gewählte Branche nichts zu bedeuten hat als die<br />
befremdliche Tatsache, dass ausgerechnet diese<br />
Leute ausschließlich unfertige Häuser bewohnen<br />
und wir also einen Abend lang auf das öde, stimmungslose<br />
Gelände einer Baustelle blicken müssen.<br />
Der Unternehmer: Vater einer Tochter, die er<br />
missbraucht; ein junger Angestellter: wird von den<br />
anderen gemobbt; Arbeiter: trinken Bier und sind<br />
hinter den Weibern her; ein Böser:<br />
hat offenbar Leute umgebracht, die<br />
ihn aber gerechterweise mit Lautsprecherstimmen<br />
aus dem Off verfolgen;<br />
die Tochter: hängt zuhause<br />
rum und kuckt Soaps; eine Freundin:<br />
hat ihren eigenen Kopf und macht,<br />
was sie für richtig hält, beziehungsweise<br />
redet in einer Tour davon; ein<br />
Politiker: korrupt, stachelt Leute mit<br />
rechten Parolen auf; ein Polizist:<br />
natürlich auch korrupt, muss aber<br />
außerdem schwer einen an der Rassel<br />
haben, da er singend weise Reden<br />
schwingt – den Text der Opernarien<br />
nämlich mag Frau Regisse denn doch<br />
nicht in ihr Szene-Gewäsch umdichten;<br />
und so passt, was die Bühne an<br />
Mist bietet, zu Carl Maria von Webers<br />
Musik und Gesang stets wie die<br />
Faust, nein, wie ein Vorschlaghammer<br />
aufs Auge.<br />
Zum Ausgleich dafür aber werden<br />
noch zusätzliche Themen »angesprochen«<br />
– und ich sehe die Regie-Mannschaft<br />
geradezu vor mir,<br />
wie sie sich über ihre Sticker-Hefte<br />
beugt und hier und da einen abzupft,<br />
um ihn irgendwo draufzukleben, wo er nicht interessiert.<br />
Natürlich, der Missbrauch gehört dazu<br />
und das Mobbing, aber auch Gemauschel am Bau<br />
mit »Kollateralschäden«, die dabei anfallen; ungesunde<br />
Ernährung, nämlich Chips statt Gurkensmoothie;<br />
Gewalt, die von Männern ausgeht; das<br />
Mädchen, das sich ritzt; Leute, die auf Menschen<br />
schießen, und so fort. Kein Zweifel, das alles gibt<br />
es wirklich. Aber dass es das alles wirklich gibt