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UraUF - Die Staatstheater Stuttgart

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der garten<br />

der lüste<br />

»Denn um die Gegenwart überhaupt verstehen zu können, ist die Vorstellung<br />

einer erlösenden Zukunft unerlässlich. wir können den wert<br />

dessen, was uns umgibt, nur aus der Perspektive eines imaginären<br />

landes heraus ermessen, dessen konturen wir jedoch noch nicht<br />

einmal dann begreifen können, wenn wir uns bereits darin befinden.«<br />

David Graeber<br />

Der Maler Hieronymus Bosch hat um 1500 ein Triptychon hinterlassen, das unsere Fantasie bis heute nicht loslässt.<br />

Kaum eine bildliche Darstellung ist so kontrovers diskutiert worden wie sein »Garten der Lüste« – selbst die Bezeichnung<br />

des Bildes ist umstritten. Das Triptychon durchmisst den Weg vom Garten Eden über das irdische Leben bis<br />

zur Hölle und schließt damit an ein religiös bestimmtes Weltbild an, das seinen universellen Anspruch mittlerweile<br />

verloren hat. Aber Bosch erschafft seine eigene Bildwelt, in der Detailrealismus und ungeheuerliche Imaginationen<br />

schockierend ineinander gehen. Sein Baummensch, das Ohrenpaar vom Dolch zerschnitten, die Musikantenhölle,<br />

die bizarren Lebensbrunnen, die Mischwesen aus Tier und Mensch, die hypertrophen Pflanzen und die bizarren<br />

Kreisläufe von Werden und Vergehen sind Imaginationen, die bis in die heutigen Science Fictions und die Popkultur<br />

nachwirken. Ist der Mittelteil des Bildes die Darstellung einer utopisch-harmonischen Welt, wie Wilhelm Fraenger sie<br />

gedeutet hat oder ein fantasiereiches Mahnbild gegen eine verkehrte, triebgesteuerte Menschheit? Wie lustvoll oder<br />

belehrend war die historische Rezeption um 1500? Wie nahmen die strenggläubigen spanischen Könige die bizarren<br />

Schöpfungen Boschs wahr, die sie bereits unter Philipp II. in ihren Besitz brachten? Erleichterte Boschs schemenhafte<br />

Darstellung der nackten menschlichen Figur den spielerischen Umgang mit der Lust und dem Schrecken?<br />

Wie immer man heute diese Fragen beantwortet, welcher Interpretation man zuneigt, es bleibt vor allem die sinnliche<br />

Kraft des Triptychons, die unsere Alltagserfahrung mit einer visionären Welt konfrontiert. Das Unvorstellbare und das<br />

Undenkbare sichtbar zu machen, wird damit zur Aufgabe der Kunst. <strong>Die</strong> karnevalistische Verkehrung aller Verhältnisse,<br />

das Ausstellen und Befragen der menschlichen Lüste und der moralischen Ordnung bilden den Rahmen des Welttheaters<br />

von Hieronymus Bosch.<br />

In diesem Sinne folgen wir den Spuren des Malers und widmen uns den dramatischen Stoffen und Fantasien, die<br />

nach der Natur des Menschen, dem Verhältnis von Sein und Schein im menschlichen Leben, von Schuld und Strafe,<br />

von Lust und deren Folgen fragen. Der Dichter Calderón de la Barca, der Boschs Bilder in Madrid gesehen haben<br />

könnte, spielt mit das leben ein traum ein Erziehungsmodell des Menschen durch, in dem der junge Thronfolger<br />

Sigismund vom eigenen Vater zum Höhlendasein verdammt wird. Zurückversetzt in die Zivilisation, bricht Sigismund<br />

alle Konvention, er tötet, aber was ist es, das da in ihm ausbricht? Ist es die ›menschliche Natur‹ oder eine fehlgeleitete<br />

Sozialisation? Regisseur Sebastian Baumgarten greift mit Calderóns Stück erneut ein philosophisches Drama auf.<br />

Skandalös und komisch zugleich ist in seiner Entstehungszeit Molières tartuffe wahrgenommen worden. Das Bloß-<br />

legen der ethisch-religiösen Unaufrichtigkeit, des Scheins einer moralischen Integrität, taugt heute immer noch zum<br />

Spektakel, vor allem wenn es um Figuren des öffentlichen Lebens geht. Claudia Bauer inszeniert diesen Molière-<br />

Klassiker.<br />

Neben diesen großen Texten der Weltliteratur werden sich eine Vielzahl von Uraufführungen mit dem Garten der<br />

Lüste in Bezug setzen. In ein vermeintliches Südsee-Paradies reisen vier deutsche Touristen, um der Tristesse des<br />

Alltagslebens zu entfliehen – so ist die Ausgangssituation in Sibylle Bergs neuem Stück angst reist mit. Aber die<br />

vier schleppen die zivilisatorischen Ansprüche und die selbstzerstörerischen Potentiale unserer konsumbesessenen<br />

Gesellschaft mit – das Paradies wird zum Höllentrip. Hasko Weber inszeniert die neue ›Freizeitoper‹, die Sibylle Berg<br />

für das schauspiel stuttgart geschrieben hat. Mit der Sehnsucht nach dem Paradies beschäftigt sich auch der<br />

Autor und Regisseur Jan Neumann, der die klassische Konstellation – Adam, Eva und ein ›Drittes‹ – zur Grundlage<br />

seiner neuen Stückentwicklung störenfriede (arbeitstitel) im nord macht.<br />

Regisseur Stephan Kimmig präsentiert mit stallerhof von Franz Xaver Kroetz und der Uraufführung von Stephan<br />

Kaluzas 3d zwei Stücke, in denen sexuelle Gewalt zur destruktiven Triebkraft wird und das Leben in der Familie zur<br />

Tortur. Eine Welt zwischen Himmel und Hölle – die internationale Finanzwelt – schildert Andres Veiels dokumentarisches<br />

Theaterstück das himbeerreich.<br />

Zu den Lüsten und Begierden gehört auch das Essen. Kein Fernsehtag vergeht ohne Kochshow, über nichts reden<br />

wir so gern wie über das Essen und Trinken. Mit den grotesken Verzerrungen dieses Teils unseres Alltags – früher<br />

als die Todsünde ›Völlerei‹ bekannt – wie mit den gesellschaftlichen Dimensionen der modernen Nahrungsmittelherstellung<br />

und -verschwendung beschäftigt sich Volker Lösch in seiner Inszenierung großes fressen.<br />

Eröffnet wird die Spielzeit im nord mit der Uraufführung von salmans kopf des Autorenduos Brüder Presnjakow,<br />

inszeniert von Catja Baumann, die als Künstlerische Leiterin das nord zwei Jahre lang erfolgreich geführt hat. <strong>Die</strong><br />

Presnjakows greifen im Stile Gogols auf das Mittel der Groteske zurück, um die Verzerrungen menschlichen Verhaltens<br />

durchzuspielen. In der karnevalistischen Verdrehung des Stücks sind es nicht religiöse Fundamentalisten, die Salman<br />

Rushdies Kopf fordern, sondern seine eigene Familie.<br />

<strong>Die</strong> diesjährigen Uraufführungen – zu denen auch die neuen Stücke von René Pollesch und Rimini-Protokoll gehören –<br />

setzen Boschs »Garten der Lüste« in den Kontext der Gegenwart, sie sind unser theatralischer Zerrspiegel, unser Kalei-<br />

doskop der Wirklichkeit.<br />

JörG boChow<br />

Chefdramaturg<br />

84 Schauspiel <strong>Stuttgart</strong> 12/13 85

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