2012 1. 2. 3. 5. 7. 9. 8. Wissenswerte Änderungen im neuen ... - Iurratio

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36 Schwerpunkt er zur Strafverfolgung konkret unternimmt. 7 Angesichts der unübersichtlichen Situation im Post-Gaddafi -Libyen sicherlich kein einfaches Unterfangen. So wird der Gaddafi -Sohn derzeit von lokalen Machthabern als Faustpfand im internen Kampf um die Machtverteilung genutzt. Zudem gibt es nach dem Zusammenbruch des alten Regimes noch keine funktionsfähigen Strafverfolgungsinstitutionen. Es wird demnach nicht einfach sein, die Haager Richter von der Realisierbarkeit eines nationalen Strafverfahrens zu überzeugen. Dementsprechend läuft derzeit das Verfahren gegen Saif al-Islam vor dem IStGH weiter. 8 Dabei sprechen viele gute Gründe für ein Verfahren vor Ort: Die leichtere und kostensparende Beweisaufnahme, die Vertrautheit des Angeklagten mit Sprache und Rechtsordnung sowie zu erwartende Vorteile bei der Bekanntmachung des Verfahrens und der Einbindung der Bevölkerung bei der Aufarbeitung von Systemunrecht. Und ein weiterer Punkt scheint gegen ein Verfahren in Den Haag zu sprechen. Saif al-Islam und möglicherweise entscheidende Beweismittel befi nden sich in den Händen der libyschen Übergangsregierung. II. FESTNAHME UND BEWEISGEWINNUNG Damit ist ein Problem der internationalen Strafverfolgung bereits benannt. Der IStGH verfügt über keine Polizei und nur begrenzte Ermittlungskapazitäten. Das Gericht ist auf die Kooperation der Staaten oder internationaler Organisationen dringend angewiesen. Während die Beweisgewinnung im Fall Libyen aufgrund medialer Dauerberichterstattung und kooperationswilliger Informanten sich sicher einfacher darstellen dürft e als in den „vergessenen Konfl ikten“ in Uganda und Kongo 9 steht der IStGH bei der Frage der Festnahme und Überstellung vor ernstzunehmenden Problemen. Zwar ist die neue Regierung nach wie vor zur Kooperation mit dem IStGH verpfl ichtet, die der UN-Sicherheitsrat Libyen in Res. 1970 auferlegt hat. Erzwingen lässt sich diese jedoch nicht so einfach und eine Überstellung an den IStGH scheint derzeit nicht absehbar. Vor einem ähnlichem Problem steht der IStGH im Verfahren gegen den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir und den ehemaligen kongolesischen Rebellenführer Bosco Ntaganda, wenn auch in diesen Fällen nicht einmal der Wille eigener nationaler Strafverfolgungsmaßnahmen besteht. Wie geht man also mit Schwerstkriminellen um, die (völkerrechtswidrig) nicht an den IStGH ausgeliefert werden? Israel scheint mit der „Festnahme“ Eichmanns in Argentinien eine mögliche, wenn auch politisch und völkerrechtlich äußerst problematische, Blaupause geliefert zu haben. So sahen israelische Richter im Kidnapping Eichmanns kein Verfahrenshindernis. Eichmann wurde für sein Mitwirken am Holocaust verurteilt. Die Berufungskammer des IStGH hat allerdings bereits angedeutet, dass sie in einem derartigen Fall, anders als die israelischen Richter, durchaus geneigt wäre, ein Strafverfahren wegen eines „abuse of process“ scheitern zu lassen. 10 Bleibt also einzig diplomatischer Druck und möglicherweise Sanktionen durch den UN-Sicherheitsrat – oder Geduld. 7 Judgment on the appeal of the Republic of Kenya against the decision of the Pre-Trial Chamber II of 30 May 2011 entitled „Decision on the Application by the Government of Kenya Challenging the Admissibility of the Case Pursuant to Article 19(2)(b) of the Statute“, Entscheidung der Berufungskammer v. 30.9.2011 (ICC-01/09-01/11-307), para. 62. 8 Der IStGH könnte allerdings theoretisch gem. Art. 3(3) des Rom-Statuts die Verhandlung auf libyschem Territorium abhalten. Die logistischen Probleme eines derartigen „Umzugs“ lassen eine derartige Option jedoch unrealistisch erscheinen. 9 Zu den daraus resultierenden Problemen siehe Hiéramente, in: Humanitäres Völkerrecht – Informationsschrift en 2010, 32-39. 10 Judgment on the Appeal of Mr. Th omas Lubanga Dyilo against the Decision on the Defence Challenge to the Jurisdiction of the Court pursuant to article 19 (2) (a) of the Statute of 3 October 2006, Entscheidung der Berufungskammer v. 14.12.2006 (ICC-01/04-01/06-772), para. 29. Iurratio Ausgabe 1 / 2012 III. EINE RÜCKBLENDE – DER FALL MUHAMMAR GADDAFI Muhammar Gaddafi ist bedauerlicherweise im Zuge seiner Festnahme ohne gerichtliches Verfahren hingerichtet worden. Das gegen ihn eingeleitete IStGH-Verfahren ist demnach im Sande verlaufen. Es soll an dieser Stelle allerdings gedanklich wieder aufl eben, da sich anhand eines derartigen Verfahrens relevante völkerrechtliche und rechtspolitische Problemstellungen verdeutlichen lassen. 1. IMMUNITÄT FÜR STAATSOBERHÄUPTER Muhammar Gaddafi bezeichnete sich stets als Revolutionsführer, ein offi zielles Amt bekleidete er hingegen nicht. Dennoch hatte die Vorverfahrenskammer I festgestellt, dass Muhammar Gaddafi „{is} acting as the Libyan Head of State“. 11 Diese Feststellung ist nicht besonders erstaunlich, hat dieser doch die Libyan Arab Jamahirya stets auf internationaler Bühne repräsentiert. 12 Damit folgten die Richter zum damaligen Zeitpunkt nicht der (vorschnellen) Anerkennung der Rebellen in Bengasi, die u.a. von Frankreich im Zuge der militärischen Auseinandersetzung betrieben wurde. Damit hatten die Richter nicht die heikle und juristisch hochinteressante Frage zu klären, welchen Einfl uss Regimewechsel auf die Immunität von Staatschefs haben und wann vom Ende der Amtszeit auszugehen ist. Erstaunen muss hingegen, dass die Richter in der Entscheidung keine Worte zur möglichen Immunität Muhammar Gaddafi s verloren haben. So ist die Strafverfolgung von amtierenden Staatschefs grundsätzlich völkergewohnheitsrechtlich verboten. Bereits der Erlass eines Haft befehls kann, wie der Internationale Gerichtshof (IGH) im Fall Kongo vs. Belgien festgestellt hat, gegen geltendes Völkerrecht verstoßen. 13 Teilweise andere Regeln gelten jedoch, wenn der IStGH strafverfolgend tätig wird. Jedenfalls im Falle einer Sicherheitsratsverweisung ist anerkannt, dass Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Amtsträger von Nichtmitgliedstaaten völkerrechtskonform sind und Art. 27 (2) des Rom-Statuts volle Geltung beanspruchen kann. 14 Die Immunitätsfrage im Haft befehl gänzlich unerwähnt zu lassen dürft e hingegen nicht im Interesse der Rechtsklarheit gewesen sein. 15 2. DIE RELATIVITÄT DER UNSCHULDSVERMUTUNG Jeder Jurist kennt die Regel, die auch Art. 66 (1) des Rom-Statuts niederlegt: „Jeder gilt als unschuldig, solange seine Schuld nicht in Übereinstimmung mit dem anwendbaren Recht vor dem Gerichtshof nachgewiesen ist.“ An der formellen Gültigkeit dieser Regel und Beachtung seitens des IStGH bestehen keine Bedenken. Dennoch sollte auch im Völkerstrafrecht stets im Hinterkopf behalten werden, welche Auswirkungen der Erlass von Haft befehlen haben kann. So ist ein Haft befehl gegen amtierende Staats- oder Regierungschef nichts anderes als ein Aufruf zum Regimewechsel. So lässt sich auch das Medienecho erklären, welches den Haft befehl als Meilenstein für die Isolierung des libyschen Machthabers begrüßt hatte. Ähnlich wurde und wird es als Erfolg gefeiert, dass der sudanesische Präsident Omar al-Bashir durch den gegen ihn erlassenen Haft befehl in seiner Reisefreiheit eingeschränkt wird. Doch muss man sich dabei Folgendes fragen: Stellt die Beschränkung der Reisefreiheit einen Schritt in 11 Warrant of Arrest for Muammar Mohammed Abu Minyar Gaddafi , v. 27.6.2011 (ICC-01/11-13), S. 7. 12 Decision on the „Prosecutions Application pursuant to Article 58 as to Muammar Mohammed Abu Minyar GADDAFI, Saif Al-Islam GADDAFI and Abdullah Al-Senussi“, Entscheidung der Vorverfahrenskammer II v. 27.6.2011 (ICC-01/11-12), para. 17. 13 IGH( Congo v. Belgium), Urteil v. 14.2.2002, para. 58. 14 Akande, in: Journal of International Criminal Justice 2009, 333 (342); Kreicker, in: Humanitäres Völkerrecht-Informationsschrift en 2008, 157 (161); Pichon, Internationaler Strafgerichtshof, 1. Aufl . S. 249ff . 15 Bereits im Verfahren gegen den sudanesischen Präsidenten al-Bashir fand bedauerlicherweise keine ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Frage statt.
Richtung Verhaft ung Omar al-Bashirs dar oder wirkt der Haft befehl vielmehr als eigenständige Sanktionierung der sudanesischen Führung? Ist es nicht bedenklich, dass der Haft befehl gegen Muhammar Gaddafi als Verhandlungsmasse mit der libyschen Führung genutzt wurde? Unproblematisch für die Akzeptanz internationaler Strafverfolgung ist es jedenfalls nicht, wenn der Eindruck entsteht, Haft befehle würden (einzig) als politisches Druckmittel verwendet. 3. VERHANDELN MIT MENSCHHEITSVERBRECHERN? Weiterhin stellt sich eine heikle politische Frage, die sich im Fall Libyen aufgrund der erfolgreichen Revolution nunmehr erledigt hat. Darf man mit Menschheitsverbrechern verhandeln? Man nehme an, Muhammar Gaddafi hätte sich länger an der Macht halten können: Hätten die Vereinten Nationen im Interesse ihrer humanitären Mission zu Verhandlungen mit Muhammar Gaddafi bereit sein sollen? So hat das Beispiel Sudan gezeigt, dass die Unterstützung der Regierung sine qua non für die Tätigkeit der UN vor Ort ist. Eine Friedensmission gegen den Willen der Regierung ist schließlich ein hoff nungsloses Unterfangen. Die Neutralität von UN-Personal gehört zudem zu den Grundsätzen der internationalen Friedensschaff ung seitens der Vereinten Nationen. Die UN-Diplomaten befi nden sich daher in einem Dilemma. Wie weit darf man bei der Zusammenarbeit mit kriminellen Eliten gehen und wie „verkauft “ man derartige Kooperationen der Weltöff entlichkeit. Doch nicht nur die UN-Friedensmissionen befi nden sich in einer schwierigen Situation. Hätte sich die Weltgemeinschaft im Falle eins Versagens der NATO-Luft angriff e bereit erklären sollen, Muhammar Gaddafi und seinen engsten Verbündeten die Ausreise in einen Drittstaat (etwa Saudi-Arabien) zu erlauben, in dem diese vor Strafverfolgung sicher sind? Die USA haben Medienberichten zufolge jedenfalls bereits im Zeitpunkt des Erlasses des Haft befehls eine solche Option geprüft . Schließlich stehen auch die Organe des IStGH vor schwerwiegenden Entscheidungen. Hätte etwa der Chefankläger das Verfahren gem. Art. 53 (2) (c) einstellen sollen, wenn sich der Haft befehl als schädlich für Verhandlungen mit Muhammar Gaddafi herausgestellt hätte und durch eine Einstellung weiteres Blutvergießen hätte vermieden werden können? Eine Verfahrenseinstellung aus präventiven Gründen ist zwar vom Wortlaut der Norm gedeckt. Sie muss jedoch die gut begründete Ausnahme bleiben. Der derzeitige Chefankläger, dessen Mandat im nächsten Jahr ausläuft , hat sich jedenfalls in der Vergangenheit ablehnend zu möglichen Verfahrenseinstellungen aus präventiven Gründen geäußert. Es ist kaum zu erwarten, dass sich daran etwas ändern wird. IV. SELEKTIVITÄT DER STRAFVERFOLGUNG Die resolute Haltung des Chefanklägers in der Vergangenheit ließe vermuten, der IStGH habe die „Kinderkrankheiten“ der ad hoc- Tribunale überwunden und eine emanzipierte, apolitische und universelle Institution sei ins Leben gerufen worden. Diesem Selbstverständnis scheint die Anklage allerdings nicht immer vollkommen gerecht zu werden. So häufen sich die Vorwürfe der Selektivität gegen das Gericht. Die Kritik an der Einseitigkeit der Strafverfolgung im Falle der Staateneigenüberweisungen wurde bereits erwähnt. Des Weiteren wirft die Afrikanische Union der Anklage vor, nur Fälle in Afrika zu untersuchen. Dieser Vorwurf greift in der Allgemeinheit hingegen zu kurz. So sind dem Ankläger durch die beschränkte Mitgliedschaft und territoriale Zuständigkeit weitgehend die Hände gebunden. Selbst im Fall Libyen ist die Zuständigkeit des IStGH durch den UN-Sicherheitsrat beschränkt worden. So enthält der operative Teil der Res. 1970 folgenden Zusatz: „Decides that nationals, current Iurratio Ausgabe 1 / 2012 Schwerpunkt or former offi cials or personnel from a State outside the Libyan Arab Jamahiriya which is not party to the Rome Statute of the International Criminal Court shall be subject to the exclusive jurisdiction of that State {...}“. Der Fokus auf Afrika kann dem Chefankläger daher nur schwer zum Vorwurf gemacht werden. Dennoch muss verwundern, dass bestimmte Konfl iktherde weitgehend ignoriert werden. Exemplarisch hierfür ist Afghanistan. Afghanistan ist 2003 Mitglied des IStGH geworden. Die UN und die Medien berichten in steter Regelmäßigkeit über Taten des afghanischen Widerstands. Zivilisten werden gezielt getötet, auf Märkten gehen Bomben hoch und Sprengsätze am Straßenrand verbreiten Angst und Schrecken. Wie kann es dann sein, dass der Chefankläger niemals offi zielle Ermittlungen eingeleitet hat? Sind etwa die afghanischen Gerichte selber in der Lage die Taten fair abzuurteilen? Oder mangelt es etwa an Beweisen für schwerwiegende Taten? Es scheint wohl eher, dass kein Interesse der internationalen Gemeinschaft besteht, die schwierige Situation in Afghanistan mit internationalen Strafverfahren zu belasten. Mit der Talibanführung wird verhandelt, eine Streichung von der UN-Sanktionsliste fi ndet Unterstützung der Konfl iktparteien und die Bildung einer gemeinsamen Regierung mit den Taliban wird diskutiert. So verständlich dies auch ist: Selektive Strafverfolgung ist politisierte (nicht zwangsläufi g instrumentalisierte) Strafverfolgung. E. SCHLUSSBEMERKUNGEN Der IStGH und sein Chefankläger stehen vor richtungsweisenden Entscheidungen. Sollte man Fälle an sich ziehen, die Ressourcen der Institution verschlingen und womöglich nie zu einem Verfahren in Den Haag führen? Sollte die Anklage in derart weitem Umfang „im Auft rag“ von Staaten und des UN-Sicherheitsrats agieren oder stärker aus Eigeninitiative handeln? Ist es für die Akzeptanz der Institution förderlich ein Strafverfahren gegen Individuen einzuleiten, die sich in einer militärischen Auseinandersetzung mit der NATO befi nden? Nach welchen Kriterien erfolgt die Fallauswahl: Schwere der Tat, Festnahmeaussichten, Potential zur Friedensförderung? Die Beantwortung der Fragen kann nicht leicht fallen. Sie sollten jedoch auch außerhalb der Völkerrechtswissenschaft und des IStGH- Gebäudes debattiert und publik gemacht werden. Dieser Debatte haben sich die Staaten durch einen nebulösen Kompromiss bei der Römischen Konferenz entzogen. Sie haben eine Institution geschaffen, es dabei jedoch versäumt (oder vermieden) klare Zielbestimmungen festzulegen. Das Festlegen von Prioritäten wurde vielmehr dem Chefankläger und seiner Entourage überantwortet. Es wird Zeit, dass die Debatte in der bundesrepublikanischen Politik, Gesellschaft und Medienwelt nachgeholt wird und eine kritische Würdigung des internationalen Strafrechtssystems erfolgt. �� 37
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