Gemeinschafts- diagnose
20151008_gd_herbst_gutachten
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Wirtschaftspolitik<br />
Regeln in der Währungsunion scheinen aber Zweifel<br />
angebracht, ob die Bindungskraft des Fiskalpakts ausreicht,<br />
um künftig finanzpolitische Fehlentwicklungen<br />
zu verhindern. Dies gilt vor allem deshalb, weil der Entscheidung<br />
über die Sanktionierung von Regelverstößen<br />
auch weiterhin eine Mehrheit der Mitgliedstaaten zustimmen<br />
muss. Dass die gegenwärtigen Budgetdefizite<br />
Frankreichs und Italiens toleriert werden, weist erneut<br />
auf eine Aufweichung der Regeln hin.<br />
Um die langfristige Stabilität des Euroraums zu erhöhen,<br />
ist eine weitergehende finanzpolitische Integration erforderlich.<br />
4 Dafür besteht derzeit nur wenig politische Bereitschaft.<br />
Vor dem Hintergrund des auch empirisch gut begründeten<br />
Befunds, dass die Stabilität einer Währungsunion<br />
ohne eine sie flankierende politische Union nicht<br />
dauerhaft zu gewährleisten ist, 5 sollte es sich die europäische<br />
Politik zur Aufgabe machen, nationale Entscheidungsträger<br />
und die Bevölkerung von der Sinnhaftigkeit<br />
und Notwendigkeit einer Fortsetzung des politischen Integrationsprozesses,<br />
insbesondere in Form einer erhöhten<br />
Bindungskraft europäischer Fiskalregeln, zu überzeugen.<br />
… und auch in der europäischen Asylpolitik<br />
Auch in der Asylpolitik ist das institutionelle Fundament<br />
der Europäischen Union nicht so ausgestaltet, dass die<br />
Flüchtlingsmigration effizient bewältigt würde. In den<br />
vergangenen Wochen kam es zwar zu ersten gemeinsamen<br />
Reaktionen: So haben die EU-Innenminister Ende<br />
September die Verteilung von 120 000 Asylsuchenden<br />
über die Mitgliedsländer beschlossen. Zudem stellt die<br />
EU eine Milliarde Euro zur Verbesserung der Situation<br />
der Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens bereit.<br />
Wie die Flüchtlinge grundsätzlich in der Union verteilt<br />
werden sollen, ist aber nach wie vor ungeklärt. Vor allem<br />
ist man bei den wichtigsten Aufgaben, der Festlegung<br />
einer gemeinsamen Asylpolitik und Maßnahmen<br />
gegen die Fluchtursachen, nur wenig weiter gekommen.<br />
Derzeit ist die Attraktivität der Zielländer aus Sicht der<br />
Flüchtlinge offenbar vor allem durch Unterschiede in<br />
der Anerkennungspraxis und den zu erwartenden Leistungen<br />
sowie durch Ankereffekte 6 bestimmt. Auf Dauer<br />
4 Nach der Theorie des Fiskalföderalismus soll in einem föderalen System<br />
ein öffentliches Gut – hier: die Gewährleistung von Fiskaldisziplin – immer dann<br />
– und nur dann – zentralisiert bereitgestellt werden, wenn eine Bereitstellung<br />
durch untere Ebenen nur zu hohen Kosten oder gar nicht möglich ist; diesem<br />
Gedanken folgt auch das Subsidiaritätsprinzip der Europäischen Union. Vgl.<br />
Oates, E.W. (1999), An Essay on Fiscal Federalism, Journal of Economic Literature,<br />
Vol. 37 (3), S. 1120–1149.<br />
5 Vgl. Bordo, M.D., L. Jonung und A. Markiewicz (2013), A Fiscal Union for the<br />
Euro: Some Lessons from History, CESifo Economic Studies 59 (3), S. 449–488.<br />
6 Asylsuchende einer bestimmten Nationalität bevorzugen diejenigen Länder,<br />
in denen bereits eine größere Zahl von Migranten gleicher Nationalität<br />
lebt. Vgl. Brenke, K. (2015), Flüchtlinge sind sehr ungleich auf die EU-Länder<br />
ist die damit verbundene Konzentration der Flüchtlinge<br />
auf einige wenige Mitgliedsländer nicht durchzuhalten;<br />
bereits jetzt sind Einschränkungen der Freizügigkeit<br />
innerhalb des Schengen-Raums zu beobachten.<br />
Daher sind gemeinsame und verbindliche Richtlinien<br />
erforderlich, wem – und aus welchen Gründen – in den<br />
Ländern der EU Schutz gewährt wird. Entsprechende<br />
Vereinbarungen müssen auch hinreichende gemeinsame<br />
Standards insbesondere über die Versorgung und<br />
Unterbringung der Asylsuchenden enthalten. 7<br />
Zudem sind verbindliche Prinzipien für eine ausgewogene<br />
Verteilung innerhalb der Union zu entwickeln; Maßstab<br />
dafür können Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft<br />
der Mitgliedstaaten sein. Aus ökonomischer Sicht wäre<br />
es zudem wichtig, die Aufnahmefähigkeit der nationalen<br />
Arbeitsmärkte, etwa gemessen an der Erwerbslosenquote,<br />
als Kriterium heranzuziehen. Für die lange Frist<br />
sollte erwogen werden, die Kompetenz für die Durchführung<br />
von Asylverfahren und für die Entscheidung<br />
über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft auf<br />
die europäische Ebene zu übertragen. 8<br />
Umgang mit der Flüchtlingsmigration<br />
in Deutschland: Kurzfristige Belastungen …<br />
Der hier vorgelegten Prognose liegt die Annahme zugrunde,<br />
dass in diesem Jahr 900 000 und im nächsten<br />
Jahr 600 000 Asylsuchende nach Deutschland kommen<br />
(Kasten 3.1). Mit der starken Flüchtlingsmigration sind<br />
in der kurzen Frist finanzielle Belastungen verbunden;<br />
die in der hier vorgelegten Prognose gemachten Annahmen<br />
hinsichtlich der Flüchtlingsmigration lassen auf<br />
Mehraufwendungen in einer Größenordnung von 4 Milliarden<br />
Euro für das laufende Jahr und von 11 Milliarden<br />
Euro für das kommende Jahr schließen (Kasten 3.4).<br />
Dazu zählen Aufwendungen für Unterbringung, Versorgung<br />
und Integration. Die Zahl der kurzfristig verfügbaren<br />
Plätze in Erstaufnahmeeinrichtungen ist bei<br />
weitem zu klein; dies gilt umso mehr, als Asylbewerber<br />
dort künftig länger als bisher bleiben sollen. 9 Gleichzeitig<br />
ist auch geeigneter Raum auf dem Wohnungsmarkt<br />
verteilt – auch bezogen auf die Wirtschaftskraft und Einwohnerzahl,<br />
DIW Wochenbericht 39/2015.<br />
7 Entsprechende Pläne hat der Europäische Rat bereits im Jahr 1999 formuliert<br />
(http://www.europarl.europa.eu/summits/tam_de.htm).<br />
8 Aus der Theorie des Fiskalföderalismus ergibt sich, dass bei Freizügigkeit<br />
ein sukzessiver Abbau des Sozialstaats aufgrund des Systemwettbewerbs zu<br />
erwarten ist. Vgl. Oates, W.E., (1999), a. a. O., S. 1121; Sinn, H.-W. (1997), The<br />
selection principle and market failure in systems competition, Journal of Public<br />
Economics Vol. 66, S. 247–274. Die Ergebnisse lassen sich auf die Asyl- und<br />
Flüchtlingspolitik übertragen.<br />
9 Vgl. Bundesregierung (2015), Besprechung der Bundeskanzlerin mit den<br />
Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder zur Asyl- und Flüchtlingspolitik<br />
am 24. September 2015, http://www.bundesregierung.de/Content/<br />
DE/_Anlagen/2015/09/2015-09-24-bund-laender-fluechtlinge-beschluss.<br />
pdf?__blob=publicationFile&v=4., Stand 03.10.2015.<br />
60 GD Herbst 2015