153 Politikwissenschaft
Rundbrief153
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Herbst 2015<br />
Nr. <strong>153</strong><br />
Die gesellschaftliche Rolle der Religion wird heute unter widersprüchlichen<br />
Vorzeichen behandelt. Einerseits findet sich die säkularisierungstheoretische<br />
Vorstellung, dass die Bedeutung von Religion für die Gesellschaft insgesamt<br />
abnimmt, während Glaube und religiöse Praxis aus der Öffentlichkeit<br />
verschwinden und zur Privatsache werden. Andererseits wird behauptet,<br />
dass die Säkularisierung ein Mythos ist, der sich einer notorischen Unterschätzung<br />
der Beharrungs- und Wandlungsfähigkeit von Religion verdankt.<br />
Beide Zeitdiagnosen sind von normativen Ideen durchsetzt: Der<br />
Fortbestand der Religion wird zum Teil jubilatorisch begrüßt, weil er als Garant<br />
für individuelle Wertorientierungen interpretiert wird, die eine Integration<br />
der Gesellschaft erst ermöglichen und deren Verlust im Prozess der<br />
Säkularisierung zu befürchten sei. Auf der anderen Seite ist mit eben diesem<br />
Prozess die kontrafaktische Hoffnung auf eine ebenfalls sozialintegrativ<br />
wirkende Universalisierung von Normen verbunden, die vomr Fortbestand<br />
der Religion und ihren partikularistischen, vielleicht auch irrationalen<br />
Geltungsansprüchen behindert wird.<br />
Beide Perspektiven, die sich im populären Narrativ von der „Wiederkehr“<br />
der Religionen begegnen, wurden im Rahmen unserer Jahrestagung 2015<br />
thematisiert. Das Ziel der Veranstaltung bestand darin, die empirische Basis<br />
des Narrativs zu überprüfen, Theoretisierungsmöglichkeiten auszuloten<br />
und die soziale Rolle des Narrativs selbst zu diskutieren. Die unterschiedlichen<br />
Beiträge, die u. a. auch außereuropäische Perspektiven zu China und<br />
dem Nahen Osten integrierten, zeigten sowohl Bandbreite und Komplexität<br />
der Fragestellung als auch, wie schwer bisweilen eine Trennlinie zwichen<br />
Religiösem und Säkularem hinsichtlich Sprache und Anliegen zu markieren<br />
ist (Stichwort: Pegida). Jene Verwobenheit wurde zugleich mit der These<br />
Olivier Roys in Verbindung gebracht, dass die Sichtbarkeit von Religionen<br />
in einem säkularen Umfeld umso auffälliger wirken muss. Des Weiteren<br />
thematisierten mehrere Referate die Vereinnahmungsstrategien der Religion<br />
durch rechte Parteien im europäischen Raum.<br />
Die vorgestellten theoretischen und empirischen Untersuchungen eröffneten<br />
damit in der Mehrzahl Perspektiven, die die wechselseitige Abhängigkeit<br />
von Säkularisierung und Religion verdeutlichten. Erhärtet wurde zudem<br />
die Tatsache, dass vermeintlich analytische Begriffe, mit denen in diesem<br />
Feld operiert wird, ihrerseits politisch umkämpfte Begriffe sind. Die soziale<br />
Rolle des Narrativs von der Wiederkehr der Religionen wie auch des entsprechenden<br />
Gegennarrativs bleibt damit rückgebunden an die konkreten<br />
Interessen von Akteuren, die dieses Framing allerdings nur dann erfolgversprechend<br />
wählen können, wenn die Position der Gegenseite als virulent<br />
perzipiert wird. Die Ergebnisse der Jahrestagung erscheinen wie gewohnt<br />
in der Publikationsreihe des Arbeitskreises.<br />
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