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Gedanken über Gott und die Welt - Heinrich Tischner

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Selbstverständlich sind auch Schall, Wärme, Elektrizität, Radioaktivität unsichtbar, auch wenn<br />

wir <strong>die</strong>se physikalischen Gegebenheiten auf andere Weise durch unsre Sinne wahrnehmen<br />

oder durch Geräte nachweisen können.<br />

ABSTRAKTES IST IMMER UNSICHTBAR.<br />

Die Zahl sieben ist eine nur gedachte Größe, ist daher unsichtbar <strong>und</strong> kann auch nicht<br />

sichtbar gemacht werden. Was ich sehe, ist nicht <strong>die</strong> Zahl sieben, sondern eine Menge mit<br />

sieben Elementen oder ein Zeichen, das 'sieben' bedeutet. Die Zahl ist nur eine gedachte<br />

Größe, eine Eigenschaft, <strong>die</strong> in einer Menge erkenne <strong>und</strong> aus ihr abstrahiere. Und trotzdem<br />

wird niemand bezweifeln, dass es sie gibt, denn ich kann ja mit ihr rechnen.<br />

Auch Schönheit ist unsichtbar. Was ich sehe, ist nicht Schönheit, sondern Dinge oder Wesen,<br />

<strong>die</strong> ich als schön empfinde. Schönheit ist eine Eigenschaft, <strong>die</strong> ich in einer bestimmten<br />

Struktur erkenne.<br />

GEIST IST UNSICHTBAR, ABER GEISTER KANN MAN MANCHMAL SEHEN.<br />

Mein Gehirn ist auch unsichtbar, weil es im Schädel verborgen ist. Aber man kann es sichtbar<br />

machen. Man wird darin bestimmte Strukturen erkennen <strong>und</strong> lokalisieren können, wo ich<br />

zum Beispiel meine optischen Eindrücke verarbeite. Aber man kann (jedenfalls heute) in<br />

meinem Gehirn keine <strong>Gedanken</strong> identifizieren oder erkennen, was ich jetzt gerade sehe.<br />

Genauso wenig kann ich auf meiner Festplatte <strong>die</strong> Daten erkennen, <strong>die</strong> ich darauf<br />

gespeichert habe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemand gibt, der sie ohne<br />

Computerhilfe lesen kann. Auch <strong>Gedanken</strong>, Daten <strong>und</strong> Informationen sind unsichtbar, so wie<br />

man schon immer gewusst hat, dass Geist unsichtbar ist. Sichtbar ist nur, was aus Materie<br />

besteht.<br />

Trotzdem kann man Geister manchmal sehen. Ich habe oben meine Meinung dargelegt, dass<br />

Geister virtuelle Bilder sind, <strong>die</strong> in unsrem Gehirn entstehen. Sie sind also keine Objekte der<br />

Außenwelt, <strong>die</strong> unsre Augen wahrnehmen <strong>und</strong> unser Gehirn dann zu einem realen Bild<br />

zusammensetzt, sondern sie werden allein von unsrem Gehirn produziert. Dabei können<br />

allerdings andere Sinneseindrücke wie Gerüche mit eine Rolle spielen.<br />

MAN HAT NICHT IMMER GEGLAUBT, DASS GOTT UNSICHTBAR IST.<br />

ES GAB MENSCHEN, DIE EINEN GOTT GESEHEN HABEN.<br />

Ein altägyptischer Bauer hätte verständnislos den Kopf geschüttelt, wenn jemand <strong>die</strong><br />

Meinung geäußert hätte, den <strong>Gott</strong> Re könne man nicht sehen. Er hätte dabei auf <strong>die</strong> Sonne<br />

verwiesen <strong>und</strong> gesagt: "Die kann man doch sehen!" Die Griechen hielten es für möglich,<br />

dass man <strong>die</strong> Jagdgöttin Artemis beim Baden beobachten konnte, auch wenn das ein<br />

riskantes Abenteuer war. Ein Wikinger nahm einmal einen <strong>Gott</strong> auf seinem Schiff mit, der als<br />

"Anhalter" auf einer Insel stand.<br />

Wir müssen hier allerdings unterscheiden: Dass der Sonnengott sichtbar ist, leuchtet auch<br />

uns ein, weil der <strong>Gott</strong> <strong>und</strong> der Himmelskörper identisch sind. Wenn dagegen Homer erzählt,<br />

sein Held Odysseus habe den Windgott Aiolos besucht, so ist das weiter nichts als<br />

dichterische Phantasie, <strong>die</strong> allerdings <strong>die</strong> späteren Glaubensvorstellungen der Griechen<br />

geprägt hat. Wenn Jesaja in seiner Berufungsvision versucht, den thronenden <strong>Gott</strong> im<br />

Tempel zu beschreiben, so beruht das auf einem ekstatischen Erlebnis.<br />

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