Gedanken über Gott und die Welt - Heinrich Tischner
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Man darf <strong>die</strong>se Art von Atheismus nicht mit der oben beschriebenen "<strong>Gott</strong>losigkeit"<br />
verwechseln. Auch wenn <strong>die</strong> atheistischen politischen Systeme sehr viel Unrecht getan<br />
haben, so waren doch viele Vorkämpfer für <strong>die</strong>se Ideen moralisch <strong>und</strong> charakterlich intakte<br />
Menschen.<br />
ICH BRAUCHE KEINEN GOTT (PRAKTISCHER ATHEISMUS, GOTTVERGESSENHEIT ODER<br />
SÄKULARISMUS)<br />
Im geteilten Deutschland gab es nach dem 2. <strong>Welt</strong>krieg zwei zunächst gegensätzliche<br />
Entwicklungen, <strong>die</strong> aber zu ähnlichen Ergebnissen führten: Im Osten wurden <strong>die</strong> Kirchen<br />
kurz gehalten <strong>und</strong> das religiöse Denken systematisch ausgehungert. Im Westen hat <strong>die</strong><br />
Freiheit ohne staatliche Eingriffe viel Substanz zerstört.<br />
Gerade weil der Staat keinen lenkenden Einfluss nahm, hat sich auch im Westen der<br />
praktische Atheismus verbreitet, der im naturwissenschaftlichen Denken seinen Ursprung<br />
hat. Man muss schon intensiver <strong>über</strong> den Sinn des Lebens nachdenken, um darauf zu<br />
kommen, dass Religion auch in der modernen <strong>Welt</strong> unverzichtbar ist. Im täglichen Leben<br />
aber kommen wir ganz gut ohne <strong>Gott</strong> aus. Das zeigt sich darin, dass viele religiöse Bräuche<br />
entweder aufgegeben wurden (zum Beispiel Tischgebet) oder verflacht <strong>und</strong> kommerzialisiert<br />
wurden (zum Beispiel Weihnachten).<br />
Der Verlust an religiöser Bindung hat bei uns auch zu einer Aufweichung der Moral geführt.<br />
Dabei wurden nicht nur fragwürdige Moralvorstellungen abgebaut, sondern es hat sich<br />
immer stärker Rücksichtslosigkeit <strong>und</strong> Egoismus breit gemacht. Damit hat sich unsre Zeit<br />
stark der biblischen "<strong>Gott</strong>losigkeit" angenähert.<br />
Den praktischen Atheismus nennt man auch Säkularismus 'Verweltlichung'. Das lateinische<br />
Wort saeculum 'langer Zeitraum' hat im kirchlichen Sprachgebrauch <strong>die</strong> Bedeutung 'nicht<br />
kirchliche, gottlose <strong>Welt</strong>' angenommen. "Verweltlicht" ist unser Leben, weil in ihr <strong>die</strong> Religion<br />
keinen Platz mehr hat.<br />
DER EINE GOTT UND DIE ANDEREN GÖTTER<br />
GOTT UND NICHTGOTT<br />
Die hoch entwickelten nichtpolytheistischen Religionen haben ihre Besonderheiten in<br />
Auseinandersetzung mit anderen Glaubensformen ausgebildet. Die neu Bekehrten mussten<br />
ihrem bisherigen Glauben an viele Götter abschwören <strong>und</strong> der Versuchung widerstehen, alte<br />
<strong>und</strong> neue Religion zu vermischen.<br />
Damit entstand für <strong>die</strong> Gläubigen <strong>die</strong> Frage: Was sind denn nun <strong>die</strong> Götter, an <strong>die</strong> wir früher<br />
geglaubt haben <strong>und</strong> an <strong>die</strong> heute noch andere glauben?<br />
Wenn der Teufel das oppositionelle Gegenteil <strong>Gott</strong>es ist, so entstand hier ein negatives<br />
Gegenteil: der Nichtgott. Die so genannten Götter haben keine göttliche Qualität: Sie werden<br />
degra<strong>die</strong>rt zu Dämonen oder als tote Idole verspottet, zu Hirngespinsten erklärt <strong>und</strong> damit<br />
ihre Existenz geleugnet.<br />
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