Gedanken über Gott und die Welt - Heinrich Tischner
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Damit kommt Epikuros der Auffassung einiger moderner Gelehrter erstaunlich nahe, wonach<br />
der Zufall <strong>und</strong> nicht einen vorgegebenes Prinzip <strong>die</strong> <strong>Welt</strong> entstehen ließ.<br />
MODERNE NATURWISSENSCHAFT<br />
DIE ENTSTEHUNG UNSRER HEUTIGEN ANSICHTEN<br />
FRÜHE NEUZEIT<br />
Bis ungefähr 1700 glaubten unsre Vorfahren, dass <strong>die</strong> <strong>Welt</strong> genau so entstanden sei, wie es<br />
<strong>die</strong> Bibel berichtet. Man entnahm der Bibel folgendes: <strong>Gott</strong> hat das gesamte Universum vor<br />
ungefähr 6000 Jahren innerhalb von 6 Tagen gemacht. Alle Gegenstände der belebten <strong>und</strong><br />
unbelebten Natur sind also gleich alt, <strong>die</strong> Sterne wie <strong>die</strong> Menschen, der Ozean wie <strong>die</strong><br />
Fische. Etwa 1000 Jahre später hat <strong>die</strong> Sintflut zwar alle Lebewesen vernichtet, aber Noah<br />
hatte ja von jeder Tierart ein Pärchen an Bord, sodass sich <strong>die</strong> Tiere nach der Sintflut wieder<br />
vermehren konnten. Ausgerottet wurden dabei nur <strong>die</strong> Sünder. Aber selbst <strong>die</strong>se Strafaktion<br />
blieb letztlich erfolglos, weil das Böse auch in Noah steckte <strong>und</strong> an seine Nachkommen<br />
vererbt wurde, <strong>und</strong> wenn Noah noch so rechtschaffen war.<br />
Es galt also um 1700 der naturwissenschaftliche Lehrsatz: "Es gibt so viel Gattungen <strong>und</strong><br />
Arten, wie am Anfang erschaffen wurden." 181 Von der Schnake bis zum Elefanten, vom Moos<br />
bis zur Eiche hat <strong>Gott</strong> vor 6000 Jahren alle Arten von Lebewesen erschaffen <strong>und</strong> so ist es<br />
noch heute. Auch <strong>die</strong> Sintflut konnte nichts daran ändern.<br />
17ER-JAHRHUNDERT<br />
Dann begannen sich <strong>die</strong> Gelehrten näher mit den Fossilien zu beschäftigen, welche <strong>die</strong><br />
Fürsten in ihren Raritäten-Kabinetten gesammelt hatten. Da fand man auf einmal<br />
Lebewesen, <strong>die</strong> es heute nicht mehr gibt. Die Forscher hielten sie zunächst für Wesen, <strong>die</strong> in<br />
der Sintflut umgekommen waren, kamen aber bald darauf, dass sie in verschiedenen<br />
geologischen Schichten lagen <strong>und</strong> daher zu verschiedenen Zeiten gelebt hatten. Man musste<br />
auch annehmen, dass <strong>die</strong>se gewaltigen Ablagerungen nicht innerhalb von 6000 Jahren<br />
entstanden sein können <strong>und</strong> wesentlich mehr Zeit in Anspruch genommen haben. So wurde<br />
<strong>die</strong> Annahme fragwürdig, dass alle Lebensformen schon von Anfang an da waren.<br />
Die Antwort des 17er-Jahrh<strong>und</strong>erts lautete also: Die <strong>Welt</strong> ist wesentlich älter als 6.000 Jahre<br />
<strong>und</strong> es hat wesentlich länger gedauert, bis sie fertig war. In <strong>die</strong>ser Zeit wurden ganze<br />
Gebirge abgetragen <strong>und</strong> ganze Meere mit den Ablagerungen gefüllt. In <strong>die</strong>ser Zeit<br />
entstanden neue Meere <strong>und</strong> neue Gebirge. In den abgelagerten Schichten sind Reste von<br />
Tieren erhalten, <strong>die</strong> lebten, als <strong>die</strong>se Schichten entstanden. Aus der Abfolge der<br />
Gesteinsformationen lassen sich verschiedene geologische Zeitalter rekonstruieren mit<br />
Lebewesen, <strong>die</strong> es heute nicht mehr gibt.<br />
18ER-JAHRHUNDERT<br />
Aber wie kamen <strong>die</strong> verschiedenen Arten zu Stande, wenn sie nicht von <strong>Gott</strong> am Anfang<br />
erschaffen wurden? Das hängt wohl damit zusammen, dass sich <strong>die</strong> Lebewesen veränderten<br />
Umweltbedingungen angepasst haben. Schon im 16er-Jahrh<strong>und</strong>ert, als man in Amerika viele<br />
bis dahin unbekannte Tiere <strong>und</strong> Pflanzen kennen lernte, wurden Zweifel laut, ob den Noah<br />
für sie alle Platz in seiner Arche gehabt hatte. Eine damals sogar von der Kirche gebilligte<br />
181 formuliert von Karl von Linné 1740, dem Erfinder der biologischen Systematik mit den zweiteiligen<br />
wissenschaftlichen Namen (canis lupus 'Wolf', quercus robur 'Eiche')<br />
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