Gedanken über Gott und die Welt - Heinrich Tischner
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vom Menschensohn 163 deutlich zum Ausdruck: "Einer der uralt ist" nimmt Platz auf einem<br />
Thron, lässt <strong>die</strong> "Bücher auftun" <strong>und</strong> hält Gericht <strong>über</strong> <strong>die</strong> bisherigen <strong>Welt</strong>mächte, <strong>die</strong> als<br />
dämonische Bestien vorgestellt werden. Die Untiere werden vernichtet, an ihrer Stelle<br />
<strong>über</strong>nimmt ein Himmelswesen <strong>die</strong> Herrschaft, das aussieht wie ein "Menschensohn". Es trägt<br />
also menschliche, humane Züge im Unterschied zu den bestialischen Herrschern vorher.<br />
Diese Idee eines Endgerichtes hat zwar ihre Wurzeln im israelitischen Glauben, scheint aber<br />
beeinflusst zu sein von Zarathustra. Dieser lehrte, am Ende der Zeit würde der ewige<br />
Widerstreit zwischen Gut <strong>und</strong> Böse endgültig zu Gunsten des Bösen entschieden – wohl eher<br />
im Sinne eines apokalyptischen Endkampfes als eines gerichtlichen Entscheides.<br />
INDIVIDUELLES UND UNIVERSELLES GERICHT<br />
Zur Zeit Jesu finden wir beide Vorstellungen unausgeglichen nebeneinander. Der arme<br />
Lazarus im Gleichnis ruht in Frieden in "Abrahams Schoß", während der herzlose reiche Mann<br />
in der Hölle vor Hitze schier verdurstet. 164 Die Schwester des Lazarus von Bethanien 165<br />
hofft, dass ihr Bruder am Jüngsten Tag auferstehen wird, 166 <strong>und</strong> <strong>die</strong> Offenbarung lehrt, dass<br />
erst dann <strong>die</strong> Bösen bestraft <strong>und</strong> <strong>die</strong> Guten belohnt werden. In der Offenbarung werden also<br />
das individuelles Totengericht <strong>und</strong> universelles <strong>Welt</strong>gericht in eins gesetzt <strong>und</strong> aufs Ende der<br />
Zeit vertagt. Trotzdem blieb <strong>die</strong> Vorstellung bis heute, dass das Totengericht direkt nach<br />
dem Ableben stattfindet.<br />
UND WIE IST ES TATSÄCHLICH?<br />
Wie mitunter Sterbende zu erkennen geben oder Menschen in todesnahen Situationen<br />
hinterher berichten, scheint es wirklich so zu sein, dass wir am Ende unsres Lebens Bilanz<br />
ziehen. In vielen Berichten heißt es, dass vor dem Sterbenden das ganze Leben noch einmal<br />
wie ein Film vor<strong>über</strong>zieht, angefangen vom Unfall oder der Operation bis zur Kindheit. Bei<br />
anderen kommen unbewältigte Erlebnisse noch einmal hoch, Fehlentscheidungen <strong>und</strong><br />
unvergebene Schuld. Bei einem natürlichen Tod kann niemand sterben, der nicht vollständig<br />
mit seinem Leben abgeschlossen hat <strong>und</strong> bereit ist zu gehen.<br />
Die uralte Vorstellung von einem individuellen Gericht direkt nach dem Ableben scheint auf<br />
solchen Erfahrungen zu beruhen.<br />
Die biblische Vorstellung vom allgemeinen Gericht am Jüngsten Tag dagegen hat ihren<br />
Ursprung im biblischen Geschichtsverständnis: Nicht nur unsere Leben, sondern auch<br />
historische Epochen ("<strong>Welt</strong>reiche") <strong>und</strong> unsere <strong>Welt</strong> als ganze haben einmal ein Ende, <strong>und</strong><br />
von <strong>die</strong>sem Ende her wird sich zeigen, was eine Zeit <strong>und</strong> <strong>die</strong> drin maßgeblichen Kräfte wert<br />
gewesen sind.<br />
Und erst vom Ende der Zeit her ist dann wohl auch ein einzelnes Menschenleben zu<br />
beurteilen: Es kann – für sich gesehen – sinnvoll oder sogar erfolgreich gewesen sein. Aber<br />
163 Daniel 7<br />
164 Lukas 16,19-31<br />
165 eine andere Gestalt<br />
166 Johannes 11<br />
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