Gedanken über Gott und die Welt - Heinrich Tischner
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PAPST URBAN II.<br />
war ein gläubiger Christ <strong>und</strong> hatte nach christlichen Maßstäben einen richtigen Glauben. Er<br />
hat sich aber gegen <strong>die</strong> Lehren seiner Religion dazu hinreißen lassen, einen Kreuzzug<br />
auszurufen. Damit hat sein scheinbar richtiger Glaube schlechte Früchte getragen. Der Papst<br />
war daher ein falscher Prophet.<br />
WAS SIND ABER DIE MAßSTÄBE FÜR "GUTE UND SCHLECHTE FRÜCHTE"?<br />
Ich kann mich nicht dazu verstehen, pauschal "<strong>die</strong> Bibel" oder gar "<strong>Gott</strong>es Wort" zum<br />
Maßstab zu machen, denn aus der Bibel kann man alles heraus lesen <strong>und</strong> sie wird von den<br />
unterschiedlichsten Glaubensgemeinschaften für sich in Anspruch genommen. Außerdem<br />
kann man <strong>die</strong> Bibel auch nicht ohne weiteres als Maßstab nehmen, um <strong>die</strong> "Früchte" fremder<br />
Religionen zu beurteilen.<br />
Einer Idee Jesu folgend leite ich aber aus der Bibel Maßstäbe ab, <strong>die</strong> für alle Menschen <strong>und</strong><br />
Kulturen gelten müssten:<br />
DER MAßSTAB DER VERANTWORTUNG VOR GOTT<br />
Alles, was ich tue <strong>und</strong> lasse, muss ich vor <strong>Gott</strong> verantworten. Ich bin nicht mein eigener<br />
Herr, sondern ich bin <strong>Gott</strong> Rechenschaft schuldig. Diesen <strong>Gedanken</strong> finden wir wohl in den<br />
meisten Religionen; er wird anderswo vielleicht sogar noch konsequenter verwirklicht als bei<br />
uns.<br />
DER MAßSTAB DER LIEBE ZU GOTT<br />
Jesus schließt sich der jüdischen Tradition an, wenn er fordert: "Du sollst den Herrn, deinen<br />
<strong>Gott</strong> lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele <strong>und</strong> mit allen deinen Kräften." Vor <strong>Gott</strong><br />
verantwortlich leben soll nicht aus Angst, sondern aus Liebe erfolgen.<br />
DER MAßSTAB DER MENSCHENLIEBE<br />
Auch da greift Jesus auf jüdisches Traditionsgut zurück, wenn er sagt: "Du sollst deinen<br />
Nächsten lieben wie dich selbst." Neu ist, dass er <strong>die</strong> Liebe nicht auf den Glaubensgenossen,<br />
sondern auf alle Menschen ausdehnt. Neu ist auch, dass <strong>die</strong>se bedingungslose Liebe auch<br />
dem Feind gelten soll. Ähnlich hat sich auch schon Buddha geäußert, der <strong>die</strong> Liebe sogar auf<br />
alle Lebewesen ausgedehnt hat – ein Gedanke, der in der Bibel nur am Rande vorkommt.<br />
DER MAßSTAB DES FUNKTIONIERENDEN ZUSAMMENLEBENS<br />
Es war ein wichtiges Anliegen aller religiösen Autoritäten, dass sie Regeln für das<br />
Zusammenleben aufgestellt haben, wobei sie sehr verschiedene Gruppen im Blick hatten: ein<br />
Volk (Mose, Mohammed), einen Staat (Konfuzius 22 ), eine religiöse Genossenschaft (Buddha,<br />
Jesus). Die Regeln enthalten je nach Kultur <strong>und</strong> der angesprochenen Gruppe sehr<br />
unterschiedliche Anweisungen <strong>und</strong> sind teils grob skizziert (Jesus), teils bis ins Detail<br />
ausgefeilt (Mohammed), teils in mehreren Überlieferungssträngen weiter ausgearbeitet<br />
(Mose).<br />
Wichtig scheint mir hier vor allem, ob <strong>die</strong>se Regeln praktikabel sind <strong>und</strong> wie <strong>die</strong> Anhänger<br />
einer Religion damit zurechtkommen. Dabei zeigt sich zum Beispiel, dass sich Jesus zwar am<br />
22 ein chinesischer Philosoph, dessen Lehre zur Gr<strong>und</strong>lage des chinesischen Staatswesens geworden<br />
ist<br />
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