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Gedanken über Gott und die Welt - Heinrich Tischner

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ungehorsamer Sohn muss von seinen eigenen Eltern vor Gericht gestellt werden, wenn alle<br />

familiären Maßnahmen nichts nützen. 169<br />

DER KONFLIKT ZWISCHEN GOTTES GERECHTIGKEIT UND GOTTES LIEBE<br />

Wir wissen nicht genau, welche Vorstellungen ursprünglich mit dem <strong>Gedanken</strong> verb<strong>und</strong>en<br />

waren, dass Jesus als Sühnopfer für unsre Sünden gestorben ist.<br />

Im Mittelalter kam folgende Theorie auf: "<strong>Gott</strong> ist gerecht, ein Rächer alles Bösen. / <strong>Gott</strong> ist<br />

<strong>die</strong> Lieb <strong>und</strong> will <strong>die</strong> <strong>Welt</strong> erlösen." 170 Einerseits ist <strong>Gott</strong> gerecht <strong>und</strong> kann das Böse nicht<br />

dulden. Er muss also um der Gerechtigkeit willen gegen Sünder rücksichtslos einschreiten<br />

<strong>und</strong> kann nicht dulden, dass <strong>die</strong> Menschen dauernd gegen seine Gebote verstoßen.<br />

Andrerseits liebt <strong>Gott</strong> seine Geschöpfe. Wenn er gerecht wäre, müsste er sie vernichten. Das<br />

kann er nicht, weil er <strong>die</strong> <strong>Welt</strong> liebt. <strong>Gott</strong> löst den Konflikt dadurch, dass er einen, nämlich<br />

Jesus, exemplarisch bestraft, <strong>und</strong> <strong>die</strong> anderen ungestraft lässt.<br />

So bizarr <strong>die</strong>ser <strong>Gedanken</strong>gang für uns heute klingt, so spiegelt er durchaus menschliche<br />

Verhaltensweisen. Wenn eine Gruppe als ganze gegen <strong>die</strong> Ordnung verstößt, kann man es<br />

nicht machen wie <strong>die</strong> Leviten <strong>und</strong> alle Schuldigen liqui<strong>die</strong>ren. Wir begnügen uns meist damit,<br />

ein Exempel zu statuieren, einige wenige hart zu bestrafen <strong>und</strong> <strong>die</strong> anderen ungestraft zu<br />

lassen. Es müssen nicht immer <strong>die</strong> Hauptschuldigen sein, welche <strong>die</strong> Strafe bekommen.<br />

Manchmal lassen sich <strong>die</strong> Rädelsführer nicht ermitteln, dann greift man sich wahllos ein paar<br />

aus der Menge heraus. Sie müssen dann stellvertretend für alle anderen büßen.<br />

Ähnlich verstanden <strong>die</strong> mittelalterlichen Theologen den Kreuzestod Jesu: <strong>Gott</strong> hat an ihm ein<br />

Exempel statuiert <strong>und</strong> der Gerechtigkeit Genüge getan. Nun kann auch seine Liebe dem Rest<br />

der Menschheit gegen<strong>über</strong> wirksam werden.<br />

Zugegeben, ein sehr menschliches Bild von <strong>Gott</strong>; aber es gab für Jahrh<strong>und</strong>erte eine<br />

schlüssige Antwort darauf, warum Jesus sterben musste.<br />

LUTHERS PROBLEME MIT DER GERECHTIGKEIT GOTTES.<br />

Luther hatte <strong>Gott</strong> als einen kennen gelernt, der unnachsichtig alle Sünden straft. Deshalb<br />

ging Luther ins Kloster <strong>und</strong> ist an seiner <strong>über</strong>eifrigen Gewissenhaftigkeit fast zerbrochen. Die<br />

erlösende Erkenntnis kam ihm beim Studium des Römerbriefs, als ihm klar wurde, dass unter<br />

<strong>Gott</strong>es Gerechtigkeit nicht <strong>die</strong> aktive Gerechtigkeit zu verstehen ist, mit der <strong>Gott</strong> den Sünder<br />

straft, sondern <strong>die</strong> passive "Gerechtigkeit, <strong>die</strong> vor <strong>Gott</strong> gilt." Wer glaubt, den erklärt <strong>Gott</strong> für<br />

gerecht, ohne auf seine guten oder schlechten Leistungen zu achten. Er ist von <strong>Gott</strong><br />

gerechtfertigt, das heißt freigesprochen, weil er im Glauben für sich in Anspruch nimmt, dass<br />

Christus für seine Sünden gestorben ist. Sein Glaube ist also keine Ersatzleistung, <strong>die</strong> <strong>Gott</strong><br />

von ihm erwartet, <strong>die</strong> sich etwa in besonderem Glaubenseifer zeigt oder darin, dass er bereit<br />

ist, seine Vernunft hintan zu setzen, um alles glauben zu können, was <strong>die</strong> Kirche lehrt.<br />

Sondern Glaube ist – juristisch gesprochen – <strong>die</strong> Berufung auf den "Paragraphen", wonach<br />

"das Blut Christi uns rein macht von aller Sünde."<br />

169 5. Mose 21,18-21<br />

170 Christian Fürchtegott Gellert, Ev. Gesangbuch 91 "Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken"<br />

Str. 4. Der <strong>Gedanken</strong>gang stammt von Anselm von Canterbury.<br />

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