Gedanken über Gott und die Welt - Heinrich Tischner

Paulus: Nachdem der erste Versuch mit Adam misslungen war, wurde Christus das
vollkommene Ebenbild Gottes.
Johannes: Was uns mit Gott verbindet, ist die Liebe.
In der Paradiesgeschichte wird weiter erzählt, wie Gott vergeblich versucht, aus Erde einen
zweiten Menschen zu schaffen, bis er dann auf die ungeschlechtliche Vermehrung aus der
"Rippe" kommt. Nachdem der Urmensch unter all den anderen Geschöpfen keinen
passenden Partner gefunden hatte, erkennt er schließlich das Duplikat aus der "Rippe" als
seinesgleichen an.
Lässt sich daraus schließen: So wie Gott mit Eva einen zweiten Menschen erschuf, so wollte
er mit Adam einen zweiten Gott erschaffen? Es gibt in Religion und Philosophie einige
Denkansätze, die in diese Richtung gehen: Der Mensch hat die Anlage in sich, selbst zum
Gott zu werden. Die Gottebenbildlichkeit ist nicht vorgegeben, sondern muss durch
persönliche Vervollkommnung erst errungen werden. Herakles, der Gottessohn, entschied
sich für den Weg der Tugend und wurde in harten Prüfungen geläutert, ehe er als einziger
Heros zu den Göttern erhoben wurde. Ähnlich versteht der Hebräerbrief das Leiden Christi.
"Gott ist dir worden Mensch, wirst du nicht wieder Gott, so schmähst du die Geburt und
höhnest seinen Tod," dichtet der Mystiker Angelus Silesius. Der Buddhist versucht bereits im
irdischen Leben einen Zustand, das Nirvana, zu erreichen, der sogar noch jenseits des
Götterhimmels ist.
GOTT VERWIRKLICHT SICH SELBST IN DER SCHÖPFUNG
Andere Denker wie zum Beispiel die Neuplatoniker nahmen an, dass sich Gott nicht nur im
Menschen, sondern in zunehmender Vollkommenheit in der gesamten Welt verwirklicht, da
ja einen stufenlosen Übergang von toter Materie (zum Beispiel einem Stein) über die
verschiedenen Arten von Lebewesen (der Mensch ist Materie und Geist zugleich) bis hin zum
reinen Geist (= Gott) zu beobachten ist.
Dem scheint die moderne Evolutionslehre zu entsprechen, die in der biologischen
Entwicklung nicht nur einen Trend vom Einfachen zur Mannigfaltigkeit und zur
Vervollkommnung der Organe erkennt, sondern auch einen Trend zu immer mehr Intelligenz
und zur selbstlosen Liebe.
Diese Entwicklung zur Selbstverwirklichung des absoluten Geistes ist mit dem Menschen
bestimmt noch nicht zu Ende; vorläufig scheint sie sich von der Biologie abgekoppelt zu
haben und auf dem Gebiet der Technik (künstliche Intelligenz) zu versuchen: Die intelligente
Maschine droht den Menschen abzulösen und überflüssig zu machen. Darin könnte sich das
wiederholen, was im Sündenfall geschah: Das Geschöpf macht sich vom Schöpfer
unabhängig.
ENTWICKELT SICH GOTT MIT DER WELT?
Die fortschreitende Selbstverwirklichung Gottes in der Welt, bedeutet das auch, dass sich
Gott in dem Maße selbst entwickelt und wächst, wie er in der Welt Wirklichkeit wird? Dient
die Entwicklung des irdischen Bewusstseins dazu, Gott sich seiner selbst bewusst werden zu
lassen? Hat Gott bei Beginn der Schöpfung schon gewusst, wie alles kommen würde, oder
hat er beobachtet, wie es weiterging, und dazu gelernt? So wie wir ja auch dazu lernen,
wenn wir uns mit einer Angelegenheit näher befassen?
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