Gedanken über Gott und die Welt - Heinrich Tischner
Gedanken über Gott und die Welt - Heinrich Tischner
Gedanken über Gott und die Welt - Heinrich Tischner
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
"Prima, <strong>die</strong> böse Stadt hat das ja auch nicht anders ver<strong>die</strong>nt!" Dann aber liest er zu seinem<br />
Erstaunen, dass <strong>die</strong> bösen Leute von Ninive sich besserten <strong>und</strong> das angekündigte Unheil<br />
ausblieb. Hesekiel bringt es auf einen Nenner: "Meinst du, <strong>Gott</strong> wolle den Tod des Sünders<br />
<strong>und</strong> nicht, dass er umkehrt <strong>und</strong> am Leben bleibt?" Sinn der klassischen alttestamentlichen<br />
Prophetie ist also, den Sünder zu warnen, nicht ein unabwendbares Schicksal herbeizurufen.<br />
LEGITIME UND ILLEGITIME WAHRSAGEBRÄUCHE<br />
Die Geschichte von Sauls Besuch bei der Totenbeschwörerin erwähnt, Saul hätte alle<br />
"Zeichendeuter <strong>und</strong> Geisterbeschwörer ausgerottet". Das bedeutet nicht, dass sich<br />
Zukunftsdeutung gr<strong>und</strong>sätzlich nicht mit dem Glauben an Jahwe vereinbaren ließe, sondern<br />
es man muss unterscheiden zwischen erlaubten <strong>und</strong> verbotenen Praktiken. Legitim ist <strong>die</strong><br />
Befragung Jahwes durch priesterliches Losorakel <strong>und</strong> Propheten sowie <strong>die</strong> Berücksichtigung<br />
von Träumen. Zeichendeutung <strong>und</strong> Totenbeschwörung dagegen sind verboten, vermutlich<br />
weil Israel <strong>die</strong>se Bräuche erst durch fremde Völker kennen gelernt hatte <strong>und</strong> daher für<br />
"heidnisch" ansah. Man befragte damit nicht Jahwe, sondern andere Götter oder <strong>die</strong> Toten.<br />
Und <strong>die</strong> israelitische Religion hat bis heute eine Abneigung gegen den Totenkult.<br />
In späteren Erzählungen wird dargestellt, wie sich der israelitische Held den heidnischen<br />
Wahrsagern gegen<strong>über</strong> als <strong>über</strong>legen erweist. Josef <strong>und</strong> Daniel können Träume kraft ihrer<br />
von Jahwe geschenkten Weisheit deuten. 200 Dazu gehört keine erlernbare Wahrsagetechnik,<br />
sondern Intuition, <strong>die</strong> von <strong>Gott</strong> geschenkt wird. Israel war also mit den anderen Völkern der<br />
Meinung, dass in Träumen Offenbarungen enthalten sind. Aber man kann <strong>die</strong> Träume nur<br />
mit Hilfe dessen entschlüsseln, der sie gesandt hat.<br />
Jesaja dagegen grenzt sich gegen andere Propheten ab, <strong>die</strong> sich auf Träume berufen: "Wer<br />
einen Traum hat, erzähle einen Traum"; der wahre Prophet aber beruft sich auf das Wort<br />
Jahwes, das er gehört hat. Das eindeutige Wort <strong>und</strong> nicht der symbolhafte,<br />
deutungsbedürftige Traum ist also das Medium, durch das sich Jahwe offenbart.<br />
Das Alte Testament zeigt also deutlich den Hang zur Rationalisierung. Nicht nur <strong>die</strong> von<br />
Anfang an suspekten Zeichendeutungen <strong>und</strong> Geisterbeschwörungen werden als<br />
Offenbarungsformen ausgeschieden, sondern später auch das Losorakel 201 <strong>und</strong> der Traum.<br />
Übrig bleibt schließlich nur das prophetische Wort, <strong>und</strong> als <strong>die</strong>s nach späterer Überzeugung<br />
im Laufe der persischen Herrschaft versiegte, traten an seine Stelle das geschriebene<br />
Bibelwort <strong>und</strong> <strong>die</strong> Weisheit der Schriftgelehrten. Dabei ist es bis heute geblieben.<br />
WAS WIR 'SCHICKSAL' NENNEN, KOMMT IN DER BIBEL NUR AM RAND VOR.<br />
HEBRÄISCH<br />
Wenn es etwas zu verteilen gibt, kann man <strong>die</strong> Entscheidung dem gôrāl 'Los' <strong>über</strong>lassen, wer<br />
welchen cheläk 'Anteil' bekommt. Auf <strong>die</strong>se Art <strong>und</strong> Weise wurde bei der Landnahme auch<br />
der Gr<strong>und</strong>besitz (nach a lāh) verlost, den jede Familie als unveräußerliches 'Erbteil' zugeteilt<br />
bekam. Je nach Qualität des Anteils hat es dann <strong>die</strong> eine Familie besser, <strong>die</strong> andere<br />
schlechter getroffen. An einigen wenigen poetischen Stellen können <strong>die</strong>se drei Wörter auch<br />
'Schicksal' bedeuten.<br />
200 Genesis 40,8; Daniel 2,27.28<br />
201 Es fiel anscheinend der prophetischen Offenbarung zum Opfer.<br />
163