Gedanken über Gott und die Welt - Heinrich Tischner
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Schicksal aus einer höheren Warte zu sehen. Aber wir dürfen auf keinen Fall damit das Leid<br />
eines Anderen deuten.<br />
EIN NEUES VERSTÄNDNIS VON VERGEBUNG<br />
KANN GOTT GESCHEHENES UNGESCHEHEN MACHEN?<br />
FEHLER LASSEN SICH OFT KORRIGIEREN.<br />
Vergeben heißt auch vergessen. Solange der Geschädigte nicht vergessen kann, hat er nicht<br />
wirklich vergeben. Wer vergisst, der streicht ein Stück Vergangenheit aus seinem<br />
Bewusstsein. Er kann sich nicht mehr daran erinnern, so als ob das Vergessene <strong>über</strong>haupt<br />
nicht geschehen wäre.<br />
Nach dem normalen ges<strong>und</strong>en Menschenverstand kann aber Geschehenes nicht<br />
ungeschehen gemacht werden. Der Tote bleibt tot, auch wenn der Mörder Vergebung<br />
erfährt. Der Schaden wird nicht dadurch beseitigt, dass der Geschädigte vergisst. Die<br />
sträfliche Tat wird bekanntlich auch nicht dadurch weggewischt, wenn sich der Täter an<br />
nichts mehr erinnern kann. Was ich vergessen habe, daran können sich wenigstens andere<br />
Leute erinnern. Nach dem ges<strong>und</strong>en Menschenverstand lässt sich <strong>die</strong> Vergangenheit nicht<br />
ändern.<br />
Oder denken wir da falsch? Schon auf der alten Schultafel ließen sich Schreibfehler so<br />
korrigieren, dass man hinterher nichts mehr davon merkte. Mit dem Computer ist das erst<br />
recht kein Problem. Die falschen Zeichen werden gelöscht <strong>und</strong> durch richtige ersetzt. Die<br />
Korrektur hinterlässt weder auf der Tafel noch auf der Festplatte Spuren <strong>und</strong> hat auch<br />
keinerlei Konsequenzen. Sogar in unsren Schulheften hatte <strong>die</strong> sichtbar vorgenommene<br />
Korrektur keine Konsequenzen. Das verbesserte Wort wurde als richtig angesehen.<br />
Genauso ist es mit anderen Fehlern, <strong>die</strong> wir selbst merken <strong>und</strong> rechtzeitig korrigieren. Einem<br />
Kunstwerk sieht man nicht an, welche Vorarbeiten der Künstler geleistet hat. Bevor es <strong>die</strong>se<br />
Gestalt erhielt, hat der Künstler vielleicht viele Entwürfe machen müssen, <strong>die</strong> er wieder<br />
verworfen hat. Wir sehen nicht <strong>die</strong> Vorarbeit, sondern nur das Ergebnis.<br />
So ist es mit allen Entwicklungsvorgängen: Wichtig ist nur das Ergebnis. Alle Irrtümer <strong>und</strong><br />
vergeblichen Versuche waren zwar notwendige Schritte auf dem Weg zum Ergebnis; spielen<br />
aber für das Ergebnis keine Rolle mehr <strong>und</strong> sind zum größten Teil der Vergessenheit anheim<br />
gefallen.<br />
ZWEI ARTEN VON VERGANGENHEIT<br />
Hier stellt sich <strong>die</strong> Frage, was Vergangenheit <strong>über</strong>haupt ist.<br />
VERGANGENHEITSTEMPORA IN DER SPRACHE<br />
Um ein vergangenes Geschehen auszudrücken, stehen uns im Deutschen das Imperfekt "ich<br />
baute" <strong>und</strong> das Perfekt "ich habe gebaut" zur Verfügung. Heute sind <strong>die</strong> Unterschiede im<br />
Sprachgebrauch verwischt; ursprünglich konnte man aber deutlich unterscheiden:<br />
<br />
Imperfekt = unvollendete Vergangenheit: Was ich damals tat, ist heute ohne Belang. Ich<br />
"baute" 1976 ein Pfarrhaus. Die Bauperiode gehört der Vergangenheit an <strong>und</strong> ich wohne<br />
auch nicht mehr in <strong>die</strong>sem Haus.<br />
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