Gedanken über Gott und die Welt - Heinrich Tischner
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GOTT ALS SUBJEKT (OBJEKTIVE GEGEBENHEIT)<br />
EIN DEM MENSCHEN ÜBERLEGENES GEISTIGES WESEN<br />
Der Mensch der Antike hat sich <strong>die</strong> Götter als Wesen vorgestellt, <strong>die</strong> größer, stärker <strong>und</strong><br />
mächtiger als <strong>die</strong> Menschen sind. Die Ilias erzählt, dass Menschen einen <strong>Gott</strong> mit einer Waffe<br />
verw<strong>und</strong>en können, <strong>und</strong> viele haben geglaubt, ohne Nektar <strong>und</strong> Ambrosia oder Opfergaben<br />
würden <strong>die</strong> Götter verhungern. Auf der Erde konnten sie ohne weiteres gesehen werden;<br />
wenn sie das nicht wollten, mussten sie besondere Maßnahmen ergreifen. – Meist hat man<br />
sich <strong>die</strong>se Lebewesen aber subtiler vorgestellt, etwa wie wir uns Geister denken, <strong>die</strong><br />
normalerweise unsichtbar sind, aber von Fall zu Fall in Erscheinung treten.<br />
Die Philosophen haben <strong>die</strong> sinnlichen Vorstellungen ganz aufgegeben, bis von der<br />
menschenähnlichen Gestalt nur noch ein abstraktes Prinzip übrig blieb.<br />
VERGÖTTLICHTER MENSCH<br />
Dass man sich <strong>die</strong> Götter als menschenähnliche Wesen vorgestellt hat, hängt sicher mit der<br />
Ahnenverehrung zusammen, <strong>die</strong> bei allen alten Kulturen gepflegt wird: Ob es sich um <strong>die</strong><br />
verehrten Ahnen der Chinesen handelt, um antike Heroen <strong>und</strong> Halbgötter, um <strong>die</strong> Heiligen<br />
der Hochreligionen – der Übergang vom mächtigen Toten <strong>über</strong> den vorzeitlichen Heros <strong>und</strong><br />
den Halbgott zum echten <strong>Gott</strong> ist fließend. Herakles, Buddha, Jesus <strong>und</strong> Krishna waren<br />
Menschen, denen man göttlichen Rang zuerkannte.<br />
Vergöttlichte Menschen waren auch <strong>die</strong> römischen Kaiser, <strong>die</strong> nach ihrem Tod zu Göttern<br />
erhoben oder auch schon zu Lebzeiten als Götter verehrt wurden.<br />
PERSONIFIKATION<br />
Justitia, <strong>die</strong> Dame mit Waage <strong>und</strong> Schwert, ist keine Göttin, sondern eine Personifikation der<br />
Gerechtigkeit. Auch da ist der Übergang fließend von einem abstrakten Begriff zu einer<br />
persönlichen <strong>Gott</strong>heit. Die Römer haben Victoria, den 'Sieg', <strong>und</strong> Fortuna, das 'Glück', nicht<br />
nur in menschlicher Gestalt dargestellt, sondern als Göttinnen verehrt. Athene, Inbegriff der<br />
praktischen Vernunft, wurde von Anfang an als personhafte Göttin verehrt.<br />
NATURGEWALTEN<br />
Ein Teil der Götter verkörperten <strong>die</strong> Naturgewalten wie der in vielen Religionen verehrte<br />
Wettergott <strong>und</strong> Sonnengott, der "Erderschütterer" <strong>und</strong> Meeresgott Poseidon, <strong>die</strong> Erdgöttin<br />
Demeter, der Weingott Dionysos.<br />
BEGRIFFE AUS DEM MENSCHLICHEN LEBEN<br />
Weitaus öfter verkörperten <strong>die</strong> Götter soziale Gegebenheiten wie Sex (Aphrodite) <strong>und</strong> Krieg<br />
(Ares), Herrschaft (Zeus) <strong>und</strong> Kommunikation (Hermes).<br />
Keine <strong>die</strong>ser klassischen Gestalten lässt sich aber eindeutig auf eine besondere Aufgabe<br />
festlegen, sondern sie spielen wie wir Menschen mehrere Rollen.<br />
Das hängt zum Teil wohl damit zusammen, dass man <strong>die</strong> Götternamen nicht mehr<br />
verstanden hat. Zeus war von alters her der Himmelsgott (altindisch dyâus 'Himmel'), ist<br />
aber als "Vater der Götter <strong>und</strong> Menschen" wichtiger. Apollon ist dem Namen nach der<br />
'Wirkungsmächtige', wurde aber auch mit dem Sonnen- <strong>und</strong> Pestgott in Verbindung gebracht<br />
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