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Gedanken über Gott und die Welt - Heinrich Tischner

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So ist wohl es auch bei dem Problem mit dem Stein: <strong>Gott</strong> kann oder <strong>Gott</strong> kann nicht – das<br />

sind für mich unvereinbare Gegensätze. Ich bin aber <strong>über</strong>zeugt: <strong>Gott</strong> ist noch "allmächtiger",<br />

als wir uns vorstellen können: Er bringt das Unglaubliche fertig, zugleich zu können <strong>und</strong> nicht<br />

zu können.<br />

DIE PROBE AN DER WIRKLICHKEIT: JESUS AM KREUZ<br />

Das alles ist zunächst nur ein sehr absurdes <strong>Gedanken</strong>spiel. Aber es gibt tatsächlich eine<br />

Möglichkeit, <strong>die</strong>se Theorie an der Wirklichkeit zu bewähren:<br />

Wir lesen in der Passionsgeschichte, als Jesus am Kreuz hing, sei er von den Zuschauern<br />

verspottet worden. 102 Matthäus fügt den bei Markus <strong>über</strong>lieferten Lästerworten: "Der Helfer<br />

kann sich selbst nicht helfen" das Psalmzitat (!) hinzu: "Er hat <strong>Gott</strong> vertraut, der erlöse ihn<br />

nun, wenn er Gefallen an ihm hat!"<br />

Jetzt komme mir keiner <strong>und</strong> sage: "Jesus hätte sich helfen können, aber er wollte nicht." Er<br />

war genauso hilflos wie <strong>die</strong> beiden Mitgekreuzigten. Aber <strong>Gott</strong> hat ihm ja tatsächlich nicht<br />

geholfen. Er hat ihn sterben lassen. Und jetzt komme mir keiner mit dem vorschnellen<br />

Hinweis: "Halb so schlimm, <strong>Gott</strong> hat ihn ja wieder auferweckt." Nicht nur Jesus, sondern<br />

auch <strong>Gott</strong> hat am Kreuz allen sichtbar seine Ohnmacht bewiesen. Ob er nur nicht wollte oder<br />

wirklich nicht konnte, er hat jedenfalls nichts unternommen, um Jesus zu befreien. Er hat<br />

zugelassen <strong>und</strong> konnte nicht verhindern oder hat sich <strong>über</strong>haupt nicht drum gekümmert, wie<br />

Jesus so jämmerlich am Kreuz verreckte. – Und das sind Erfahrungen, <strong>die</strong> uns ja auch nicht<br />

erspart bleiben. Ich kann auch "nach Auschwitz" an <strong>Gott</strong> glauben, weil <strong>Gott</strong> schon bei Jesus<br />

seine Ohnmacht bewiesen <strong>und</strong> sie später millionenfach bestätigt hat.<br />

Und warum glaube ich dann noch? Das Geheimnis hat Lukas in seiner Erzählung von den<br />

Emmausjüngern formuliert: "Musste nicht Christus <strong>die</strong>s erleiden <strong>und</strong> in seine Herrlichkeit<br />

eingehen?" Denn es gibt nur den einen Weg: durch Leiden zur Herrlichkeit!<br />

Es ist zu oberflächlich gesehen, wenn wir sagen: "<strong>Gott</strong> konnte es sich leisten, Jesus sterben<br />

zu lassen, weil er ihn ja hinterher wieder auferweckt hat". Das wäre genauso zynisch <strong>und</strong><br />

verantwortungslos, wie wenn ein Verkehrsrowdy sagen würde: "Was soll's, wenn ich paar<br />

Autos zu Schrott fahre? Die Versicherung bezahlt ja den Schaden, <strong>und</strong> dann können sich <strong>die</strong><br />

Geschädigten neue <strong>und</strong> schönere Autos kaufen."<br />

Sondern zur Auferstehung <strong>und</strong> zum neuen Leben gibt es nur den einen Weg, den Jesus<br />

gegangen ist: durch den Tod hindurch.<br />

"Durch Leiden zur Herrlichkeit!" Auch das sind Erfahrungen, <strong>die</strong> wir immer wieder im Leben<br />

machen müssen. Wer einen Führerschein haben <strong>und</strong> Auto fahren will, muss erst einmal <strong>die</strong><br />

Tortur der Fahrschule <strong>und</strong> der Prüfung <strong>über</strong> sich ergehen lassen. Wer Erfolg haben <strong>und</strong> groß<br />

dastehen will, muss in der Regel erst mal hart arbeiten. Der Gärtner schneidet den Baum<br />

zurück, damit er seine Energie nicht in Zweige <strong>und</strong> Blätter verschwendet, sondern den<br />

Früchten zugute kommen lässt.<br />

UND WAS IST JETZT MIT DEM STEIN?<br />

Es gehört keine göttliche Allmacht dazu, einen Stein zu schaffen, der zu schwer ist, <strong>und</strong> ihn<br />

dann trotzdem zu heben. Es wäre nicht das erst Mal, dass mir <strong>die</strong>ses Kunststück gelingt: Ich<br />

stelle einen hinreichend großen Betonklotz her, der mir wirklich zu schwer ist. Und dann<br />

102 Markus 15,29-32; Matthäus 27,39-44<br />

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