Heft 18 /2010 - Deutsche Gesellschaft für Logotherapie und ...
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Sinn <strong>und</strong> Sein<br />
Solche bloße Ausgewogenheit ruft nach Fortentwicklung: von der negativen<br />
zur positiven Harmonie, vom labilen zum stabilen Gleichgewicht. Die einzelnen<br />
Größen <strong>und</strong> Akteure sollen sich nicht nur nicht im Wege stehen, sondern<br />
zu einem harmonischen Ganzen vereinen. Die Musiker eines Orchesters dürfen<br />
nicht nur nicht das Spiel der anderen stören oder übertönen, sondern sie<br />
sollen ein gelungenes Musikstück zuwege bringen. Selbst Disharmonien wirken<br />
bereichernd, wenn sie in einer umfassenderen Harmonie „aufgehoben“<br />
sind.<br />
Damit geht die Harmonie unmittelbar in das Prinzip über, das den glücklichen<br />
Abschluss des Sinngeschehens kennzeichnet: Ganzheit. Sinn strebt nach<br />
Ganzheit. Das ursprüngliche Bild da<strong>für</strong> ist der Kreis, der immer wieder neu<br />
zur Schließung gelangt. Auch die Sprache kennt ähnliche Bilder: Ich fühlte<br />
mich „r<strong>und</strong>um“ wohl, dann „zerriss“ mich der Hunger, <strong>und</strong> durch Sättigung<br />
schloss sich der Kreis wieder – sowohl im Sinne eines kreisförmigen Verlaufs<br />
wie eines relativ spannungsfreien, „r<strong>und</strong>en“ Ausgangs- <strong>und</strong> Endzustands.<br />
Ganzheit steht in Gegensatz zu Spannung, Konflikt, Zerrissenheit oder Zerbrechen,<br />
<strong>und</strong> doch gehören die Pole zusammen: Keine Spannungslosigkeit<br />
ohne Spannung, keine Ganzheit ohne Gegensatz: Ganzheit <strong>und</strong> Konflikt verbinden<br />
sich – paradox, dialektisch – zur größeren Ganzheit. Das geschieht<br />
nicht nur im zeitlichen Verlauf (diachron), sondern auch gleichzeitig (synchron)<br />
in der räumlichen Welt: Gegensätze wohnen als Einheit in fruchtbarer<br />
Ergänzung zusammen, unterschiedliche Charaktere beispielsweise als Ehepaar.<br />
Man sagt: „Er ist mit etwas glücklich“ <strong>und</strong> meint das ganzheitliche Verhältnis,<br />
das er zu seinem begehrten Gegenstand gef<strong>und</strong>en hat. Das biologische<br />
Urbild einer ganzheitlichen Beziehung unter Menschen ist die Paarung,<br />
das Urbild der Ganzheit als solcher der Organismus. In organischer Einheit<br />
bleiben die Teile verschieden, geben aber ihre Eigenständigkeit auf <strong>und</strong> fügen<br />
sich spannungsvoll-harmonisch zu einem Ganzen zusammen, das weit<br />
mehr ist als die Summe seiner Teile. Umso vollkommener ist die Ganzheit, je<br />
weniger sie von den Eigenschaften einzelner Teile <strong>und</strong> je mehr sie von Eigenschaften<br />
bestimmt wird, die nur dem Organismus als solchem zukommen.<br />
In schlichter Form drückt sich Ganzheit bereits im Ethos des Alltags aus. Im<br />
Kleinen <strong>und</strong> in aller Bescheidenheit verschmilzt der Alltag Sinn <strong>und</strong> Sein zu<br />
einer achtungsvollen Haltung gegenüber dem Sein: Achtung vor dem Alltag<br />
als dem allgemeinen Sein, Achtung vor dem harten, handgreiflichen, nicht<br />
ins Virtuelle verflüchtigten Sein <strong>und</strong> gelassene Achtung vor dem mächtigeren<br />
Sein. Auch jenseits des Alltags bleibt Ganzheit die Leitlinie. Besonders<br />
die schöpferische Hochform des Sinnes ist dadurch geprägt – wie das von<br />
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