05.11.2012 Aufrufe

Heft 18 /2010 - Deutsche Gesellschaft für Logotherapie und ...

Heft 18 /2010 - Deutsche Gesellschaft für Logotherapie und ...

Heft 18 /2010 - Deutsche Gesellschaft für Logotherapie und ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Sinn <strong>und</strong> Sein<br />

Solche bloße Ausgewogenheit ruft nach Fortentwicklung: von der negativen<br />

zur positiven Harmonie, vom labilen zum stabilen Gleichgewicht. Die einzelnen<br />

Größen <strong>und</strong> Akteure sollen sich nicht nur nicht im Wege stehen, sondern<br />

zu einem harmonischen Ganzen vereinen. Die Musiker eines Orchesters dürfen<br />

nicht nur nicht das Spiel der anderen stören oder übertönen, sondern sie<br />

sollen ein gelungenes Musikstück zuwege bringen. Selbst Disharmonien wirken<br />

bereichernd, wenn sie in einer umfassenderen Harmonie „aufgehoben“<br />

sind.<br />

Damit geht die Harmonie unmittelbar in das Prinzip über, das den glücklichen<br />

Abschluss des Sinngeschehens kennzeichnet: Ganzheit. Sinn strebt nach<br />

Ganzheit. Das ursprüngliche Bild da<strong>für</strong> ist der Kreis, der immer wieder neu<br />

zur Schließung gelangt. Auch die Sprache kennt ähnliche Bilder: Ich fühlte<br />

mich „r<strong>und</strong>um“ wohl, dann „zerriss“ mich der Hunger, <strong>und</strong> durch Sättigung<br />

schloss sich der Kreis wieder – sowohl im Sinne eines kreisförmigen Verlaufs<br />

wie eines relativ spannungsfreien, „r<strong>und</strong>en“ Ausgangs- <strong>und</strong> Endzustands.<br />

Ganzheit steht in Gegensatz zu Spannung, Konflikt, Zerrissenheit oder Zerbrechen,<br />

<strong>und</strong> doch gehören die Pole zusammen: Keine Spannungslosigkeit<br />

ohne Spannung, keine Ganzheit ohne Gegensatz: Ganzheit <strong>und</strong> Konflikt verbinden<br />

sich – paradox, dialektisch – zur größeren Ganzheit. Das geschieht<br />

nicht nur im zeitlichen Verlauf (diachron), sondern auch gleichzeitig (synchron)<br />

in der räumlichen Welt: Gegensätze wohnen als Einheit in fruchtbarer<br />

Ergänzung zusammen, unterschiedliche Charaktere beispielsweise als Ehepaar.<br />

Man sagt: „Er ist mit etwas glücklich“ <strong>und</strong> meint das ganzheitliche Verhältnis,<br />

das er zu seinem begehrten Gegenstand gef<strong>und</strong>en hat. Das biologische<br />

Urbild einer ganzheitlichen Beziehung unter Menschen ist die Paarung,<br />

das Urbild der Ganzheit als solcher der Organismus. In organischer Einheit<br />

bleiben die Teile verschieden, geben aber ihre Eigenständigkeit auf <strong>und</strong> fügen<br />

sich spannungsvoll-harmonisch zu einem Ganzen zusammen, das weit<br />

mehr ist als die Summe seiner Teile. Umso vollkommener ist die Ganzheit, je<br />

weniger sie von den Eigenschaften einzelner Teile <strong>und</strong> je mehr sie von Eigenschaften<br />

bestimmt wird, die nur dem Organismus als solchem zukommen.<br />

In schlichter Form drückt sich Ganzheit bereits im Ethos des Alltags aus. Im<br />

Kleinen <strong>und</strong> in aller Bescheidenheit verschmilzt der Alltag Sinn <strong>und</strong> Sein zu<br />

einer achtungsvollen Haltung gegenüber dem Sein: Achtung vor dem Alltag<br />

als dem allgemeinen Sein, Achtung vor dem harten, handgreiflichen, nicht<br />

ins Virtuelle verflüchtigten Sein <strong>und</strong> gelassene Achtung vor dem mächtigeren<br />

Sein. Auch jenseits des Alltags bleibt Ganzheit die Leitlinie. Besonders<br />

die schöpferische Hochform des Sinnes ist dadurch geprägt – wie das von<br />

11

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!