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Kein schöner Land in dieser Zeit. Verlorene ... - Reimar Oltmanns

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Michael Vogel bedrückt die sozialpolitische Verantwortung der Arbeitsrichter. Er war<br />

jung im Amt, als konservative Richterkollegen ihre Urteile noch im Geiste der Gewerbeordnung<br />

von 1869 fällten. Danach konnte e<strong>in</strong> Geselle oder Gehilfe schon entlassen werden, "wenn er sich<br />

e<strong>in</strong>es "liederlichen Lebenswandels" schuldig machte, e<strong>in</strong>en Familienangehörigen des Arbeitgebers<br />

beleidigte oder "mit e<strong>in</strong>er abschreckenden Krankheit behaftet" war. Erst die Große Koalition aus<br />

CDU/CSU und SPD hat Anfang 1969 den Schutz vor fristloser Kündigung durch e<strong>in</strong>e<br />

Generalklausel erweitert. Jetzt muss der Arbeitgeber den Kündigungsgrund konkret beweisen. Und<br />

es liegt im Ermessensspielraum des Richters, ob er den Entlassungsgrund anerkennt oder nicht.<br />

Ihn - den Kündigungsschutz - ganz abzuschaffen oder <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Wesensgehalt zu<br />

verändern, bedeute <strong>in</strong> der Praxis, so Vogel "die Arbeitsgerichte abzuschaffen und die Menschen<br />

vogelfrei ihrem Schicksal zu überlassen." Immerh<strong>in</strong> erstritten die Gewerkschaften alle<strong>in</strong> im<br />

überprüften Jahr 1993 mit ihrer Rechtsbeihilfe vor Arbeitsgerichten Abf<strong>in</strong>dungen und<br />

Nachzahlungen <strong>in</strong> erster Instanz e<strong>in</strong>e Summe von 93 Millionen Euro.<br />

Die fortschrittlichen Richter - die "politischen Richter", wie sie der Braunschweiger<br />

Oberlandesgerichtspräsident Rudolf Wassermann (*1925+2008; OLG 1971-1990) nannte, s<strong>in</strong>d<br />

darüber entsetzt, dass die konservativen Kollegen immer noch "verzweifelt <strong>in</strong> der Sammlung der<br />

Urteile der Obergerichte suchen, um den Fall irgendwie h<strong>in</strong>zubiegen". Michael Vogel: "Auf diese<br />

Art Urteile zu sprechen, beweist doch nur die Ängstlichkeit <strong>dieser</strong> Kollegen. Es ist e<strong>in</strong>fach<br />

bequemer, wenn man versucht, die mögliche Entscheidung der Ober-Instanz zu erraten."<br />

Genauso hart geißelt Vogel die außergerichtlichen Nebenjobs so mancher<br />

dienstbeflissener Kollegen. Wenn Unternehmensleitung und Betriebsrat etwa beim Abschluss e<strong>in</strong>es<br />

Haustarifs oder e<strong>in</strong>er Betriebsvere<strong>in</strong>barung sich nicht handelse<strong>in</strong>ig werden, stehen Arbeitsrichter<br />

gern als Vermittler bereit. Ihr Honorar beträgt zwischen zweitausend und fünftausend Euro. Dazu<br />

Vogel: "Diese Nebenverdienste br<strong>in</strong>gen Firmenabhängigkeiten mit sich. Beim nächsten<br />

Kündigungsprozess mit e<strong>in</strong>em solchen Unternehmen glaubt der Richter womöglich, er müsse<br />

besonders nett und vorsichtig se<strong>in</strong>, um das Management bei Laune zu halten." Befangenheiten,<br />

Abhängigkeiten.<br />

Es ist 13.30 Uhr. Noch e<strong>in</strong> Dutzend Kläger, Beklagte und Zeugen warten. Noch vier Fälle<br />

auf dem Term<strong>in</strong>zettel, bei e<strong>in</strong>en liegt die Kündigung über e<strong>in</strong> Jahr zurück, bei dem jüngsten fünf<br />

Monate. In ke<strong>in</strong>em Fall wird der Richter dem Entlassenen se<strong>in</strong>en Arbeitsplatz zurückgeben<br />

können. Vogel: "Der Gesetzgeber müsste endlich dem Kündigungsschutz besser absichern. Der<br />

Arbeitnehmer sollte nach der Kündigung weiterarbeiten dürfen und die Kündigung erst dann<br />

gelten oder aufgehoben werden, wenn das Arbeitsgericht rechtskräftig darüber entschieden hat."<br />

Wunschvorstellungen e<strong>in</strong>es Arbeitsrichters.<br />

"Solange ke<strong>in</strong>e Waffengleichheit zwischen Unternehmer und Arbeitnehmer herrscht",<br />

bedeutet Vogel resigniert, "frage ich mich manchmal, bei welcher Riesenlüge und Farce wirkst du<br />

eigentlich mit?" Der Richter hängt sich die Robe um. Wieder geht er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Sitzungssaal 138. Die<br />

Schriftführer<strong>in</strong> steht an der Tür und ruft auf: "Grübeln gegen Stoffes." Prozessgegenstand:<br />

Verweigerung, fristlose Kündigung.<br />

Postscriptum: Es ist mittlerweile im Jahre 2008 empirisch nachgewiesen, dass<br />

Lockerungen der gesetzlichen Bestimmungen des Kündigungsschutzes ke<strong>in</strong>e neuen Arbeitsplätze<br />

geschaffen haben. Zudem gilt der gesetzliche Kündigungsschutz nur noch für jene Arbeitnehmer,<br />

die im selben Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate beschäftigt s<strong>in</strong>d. Viele<br />

Betriebe haben sich darauf verständigt, bei so genannten Neue<strong>in</strong>stellungen den ohneh<strong>in</strong> flexiblen<br />

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