09.11.2012 Aufrufe

Kein schöner Land in dieser Zeit. Verlorene ... - Reimar Oltmanns

Kein schöner Land in dieser Zeit. Verlorene ... - Reimar Oltmanns

Kein schöner Land in dieser Zeit. Verlorene ... - Reimar Oltmanns

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Zu tief sitzt obrigkeitsstaatliches Denken im Sowjetbürger. Es ist nicht nur die Angst vor<br />

dem Zugriff des KGB, der die Russen h<strong>in</strong>dert, sich aufzulehnen, sondern viel häufiger e<strong>in</strong> durch<br />

e<strong>in</strong> durch Erziehung und durch Erfahrungen im Beruf geprägten Fatalismus, ja doch nichts ändern<br />

zu können.<br />

Und dennoch gibt es immer Menschen, die sich über all diese "Vernunftgründe"<br />

h<strong>in</strong>wegsetzen. Auch unter den sowjetischen Psychiatern s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ige couragierte Kollegen, die sich<br />

ohne Rücksicht auf ihre Person auflehnten und für ihre Überzeugung hohe Gefängnisstrafen <strong>in</strong><br />

Kauf nahmen. E<strong>in</strong>er von ihnen ist der Kiewer Psychiater Dr. Semjon Guzman, 32,<br />

Seit über fünf Jahren sitzt Guzman im Straflager Nr. 35 nahe der Stadt Perm <strong>in</strong> den<br />

Bergen des Ural. Vor ihm liegen noch fast zwei Jahre Arbeitslager und weitere drei Jahre sibirische<br />

Verbannung. Ob er diese Jahre überstehen wird, ist mehr als zweifelhaft. Von Hungerstreiks<br />

geschwächt und von verschärften Haftbed<strong>in</strong>gungen zermürbt, erlitt Glusman schon mehrere<br />

Herzattacken.<br />

Dabei hatte Glusman e<strong>in</strong>e außergewöhnliche Karriere als Psychiater vor sich. Mit 23<br />

Jahren promovierte der Sohn e<strong>in</strong>es jüdischen Mediz<strong>in</strong>-Professors <strong>in</strong> Kiew. Auf den begabten<br />

Jungpsychiater wurde die Partei bald aufmerksam. Sie bot ihm e<strong>in</strong>e Vertrauensstellung als leitender<br />

Arzt <strong>in</strong> der Sonderkl<strong>in</strong>ik von Dnjepropetrowsk an. Doch Glusman lehnte ab. Er hatte gehört, dass<br />

gerade <strong>in</strong> <strong>dieser</strong> Kl<strong>in</strong>ik viele politische Fälle als "Geisteskranke" festgehalten werden. Die Partei<br />

reagierte repressiv: Glusman fand <strong>in</strong> der Ukra<strong>in</strong>e ke<strong>in</strong>e Stellung als Psychiater mehr und jobbte<br />

schließlich als Notarzt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Unfallkl<strong>in</strong>ik <strong>in</strong> Kiew.<br />

Im März 1972 durchsuchten KGB-Beamte se<strong>in</strong> Haus und stellten oppositionelle Schriften<br />

sicher, darunter e<strong>in</strong> vervielfältigtes Rohmanuskript von Solschenyz<strong>in</strong>s "Krebsstation". Zwei<br />

Monate später wurde Glusman verhaftet. In e<strong>in</strong>em Prozess, zu dem die Öffentlichkeit nicht<br />

zugelassen war, verurteilte ihn e<strong>in</strong> Gericht <strong>in</strong> Kiew zu sieben Jahren Arbeitslager und weiteren drei<br />

Jahren Verbannung - e<strong>in</strong> selbst für sowjetische Verhältnisse ungewöhnlich hartes Urteil.<br />

Der wahre Grund für die hohe Strafe war die Rache des KGB an dem Psychiater. Denn<br />

Glusman hatte es nicht nur gewagt, e<strong>in</strong>e von der Partei angebotene Stelle abzulehnen, er hatte es<br />

sogar gewagt, e<strong>in</strong> dem KGB höchst wichtiges Gutachten des "Serbskij-Instituts" zu widerlegen.<br />

Semjon Glusman und zwei Psychiater, deren Namen er nie verriet, analysierten die<br />

widersprüchlichen Expertisen über den Geisteszustand des Sowjet-Generals und Dissidenten Pjotr<br />

Grigorenko.<br />

Ärzte <strong>in</strong> Taschkent hatten Grigorenko für gesund erklärt, der "Serbskij"-Psychiater von<br />

der 4. Abteilung h<strong>in</strong>gegen beharrte darauf, dass der Bürgerrechtler geisteskrank sei. Glusman<br />

schrieb <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Kollegen-Kritik, die er im Untergrund verteilen ließ: "Wir betrachten unser Papier<br />

nicht nur als e<strong>in</strong>en Versuch, die Wahrheit im Fall Grigorenko wiederherzustellen, sondern auch als<br />

professionellen Protest gegen das System. Psychiatrie ist e<strong>in</strong> Zweig der Mediz<strong>in</strong> und nicht e<strong>in</strong><br />

Zweig des Strafgesetzes. Die Praxis, politische Dissidenten unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu<br />

verurteilen und sie <strong>in</strong> psychiatrische Kl<strong>in</strong>iken zu stecken, darf nicht fortgesetzt werden. Die Ärzte,<br />

die wissentlich so unmenschlich handeln, sollten nach den Normen des <strong>in</strong>ternationalen und des<br />

sowjetischen Gesetzes verfolgt und bestraft werden."<br />

Im Arbeitslager von Perm traf Semjon Glusman auf den Regimekritiker Wladimir<br />

Bukowski, der <strong>in</strong>zwischen <strong>in</strong> den Westen abgeschoben worden ist. Mich hat zutiefst bee<strong>in</strong>druckt,<br />

was Bukowski zusammen mit Glusman im Lager zustande brachte. Nachts, wenn die Wärter ihren<br />

letzten Rundgang beendet hatten, schrieben sie im Sche<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gaslaterne auf <strong>Zeit</strong>ungsschnipseln<br />

382

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!