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Kein schöner Land in dieser Zeit. Verlorene ... - Reimar Oltmanns

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Szene drei: Wir dürfen mit Gefangenen sprechen. Um den Verdacht auszuschalten, uns<br />

würden vorher <strong>in</strong>struierte Leute präsentiert, sollen wir e<strong>in</strong>e Zelle wählen. Wir gehen auf die Galerie<br />

h<strong>in</strong>aus, vorbei an zwei offenstehenden Zellen. Die e<strong>in</strong>e ist leer. Das sei das Behandlungszimmer.<br />

E<strong>in</strong> Stuhl, e<strong>in</strong> Tisch, e<strong>in</strong> Schemel und e<strong>in</strong> S<strong>in</strong>nspruch an der Wand: "te arrancaré los ojos y me los<br />

pondrés / me arrancaré los ojos y te los pondrés / asi yo te mirareré con tus ojos y te me mirarás<br />

con los míos." (ich werde mir die Augen ausreißen und sie dir e<strong>in</strong>setzen / so werde ich dich mit<br />

de<strong>in</strong>en Augen sehen, und du wirst mich mit me<strong>in</strong>en Augen sehen.")<br />

Die andere offene Zelle ist das Musikzentrum. E<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Verstärkeranlage, e<strong>in</strong> Tisch mit<br />

Neonlampe. Nummer 135 legt e<strong>in</strong>e Platte auf. Die Sechste von Beethoven, Pastorale. Im Flur<br />

scheppern vier Lautsprecher los. Ihre erbärmliche Qualität, dazu die Bahnhofshallen-Akustik der<br />

Gefängnisflure verzerren Wilhelm Furtwängler und die Wiener Philharmoniker zu<br />

Schießbudenlärm. Jeden Morgen und jeden Abend ist e<strong>in</strong>e halbe Stunde Musik, auch zensierte<br />

Nachrichten werden verlesen, Nummer 135, e<strong>in</strong>gesperrt auf unbekannte <strong>Zeit</strong> wegen Konspiration<br />

(Graciella sagt uns später, dass er e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Montevideo e<strong>in</strong> bekannter Discjockey war), hat e<strong>in</strong><br />

bunt gemischtes Sortiment: West Side Story, Tschaikowsky, Beatles ("All You Need Is Love"). Am<br />

liebsten spiele er die Sechste, sagt er.<br />

Vor se<strong>in</strong>er Zellentür bleiben wir stehen. Sie wird aufgeschlossen. Es ist e<strong>in</strong>e Zweierzelle,<br />

etwa acht Quadratmeter. Rechts zwei Feldbetten übere<strong>in</strong>ander, l<strong>in</strong>ks e<strong>in</strong>e Tafel mit<br />

mathematischen Formeln, daneben an der Wand zwei Gitarren. Auf e<strong>in</strong>em Bord zwei Brillen. Am<br />

Zellenende <strong>in</strong> Augenhöhe e<strong>in</strong> vergittertes Fenster. Nr. 827 und Nr. 1026 sitzen auf dem oberen<br />

Feldbett und spielen so etwas wie "Schiffe versenken". Bei unserem E<strong>in</strong>tritt spr<strong>in</strong>gen sie auf den<br />

Boden runter und stehen stramm.<br />

Wir fragen sie nach Alter und Beruf. Der e<strong>in</strong>e studierte Elektronik, der andere<br />

Mathematik. Sie sitzen seit drei Jahren, wie lange sie noch vor sich haben, wissen sie nicht.<br />

Subversion lautete die Anklage. Sie s<strong>in</strong>d beide 28 Jahre alt, nicht verheiratet. Die Formeln auf der<br />

Tafel seien auch e<strong>in</strong> Spiel, sie hätten es sich selbst ausgedacht. Der Kommandant macht uns darauf<br />

aufmerksam, wie gut die beiden genährt seien. Es stimmt. Schon im Büro hat uns der<br />

Kommandant den nach genauen Ernährungswerten aufgestellten Speiseplan e<strong>in</strong>sehen lassen. Für<br />

den 9. März las er sich so: "Reissuppe, 70 Gramm Knochen; Rostbraten, 220 Gramm;<br />

Reisbällchen, 45 Gramm."<br />

Die Augen der beiden ehemaligen Studenten s<strong>in</strong>d glanzlos, gebrochen. Unsere Frage<br />

beantworten sie wie mechanisch. Es s<strong>in</strong>d wohlgenährte Hülsen, Endprodukte des KZ-Alltags.<br />

Wecken ist morgens um sechs Uhr, die Gefangenen bekommen Kaffee. Bis zum späten<br />

Nachmittag dürfen sie sich weder h<strong>in</strong>legen noch am Fenster stehen. Sie dürfen nur <strong>in</strong> der Zelle auf<br />

und ab gehen oder auf e<strong>in</strong>er Bank sitzen. Zwischen den Gefangenen verschiedener Zellen gibt es<br />

ke<strong>in</strong>erlei Kontakt. <strong>Ke<strong>in</strong></strong>er weiß den Namen des anderen, er hört nur se<strong>in</strong>e Nummer. Auf den<br />

Korridoren, etwa beim Gang zur Geme<strong>in</strong>schaftsdusche, dürfen sie nicht mite<strong>in</strong>ander sprechen.<br />

Auch bei der Arbeit herrscht Redeverbot. Es gibt wenig ablenkende Arbeit. Nur für den<br />

Lagerbedarf werden die Häftl<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>gesetzt, zum Beispiel auf dem Feld oder <strong>in</strong> der Küche. Nach<br />

dem Mittagessen, um zwölf Uhr, ist für e<strong>in</strong>e Dreiviertelstunde Hofgang. Die Gefangenen müssen,<br />

wie bei jedem Gang außerhalb der Zelle, die Hände auf dem Rücken tragen. Der Oberkörper ist<br />

dann vornübergebeugt. Manchmal während die Häftl<strong>in</strong>ge Hofgang haben, üben die Soldaten<br />

Ausbruchsalarm. Auf e<strong>in</strong> Kommando h<strong>in</strong> müssen sich die Häftl<strong>in</strong>ge auf den Boden werfen, Hände<br />

über den Kopf gefaltet - die Militärs feuern dann über ihren Köpfen Salven ab. Um neun Uhr gibt<br />

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